Montag, 18. Mai 2020
Erste Vorschau auf 2021
Vor zwei Tagen hätte der ESC 2020 stattfinden sollen, und wir wüssten jetzt, wer der Sieger ist - sehr viele Ereignisse werden in diesen Tagen im Konjunktiv II artikuliert. Stattdessen sendete die ARD ein Mammutprogramm - eine selbst produzierte Show ohne Publikum, bei der immerhin vier der designierten ESC-Interpreten live auftraten, mit etwas zeitlicher Verzögerung ein gesamteuropäisches Projekt ohne Wettbewerbscharakter aus den Niederlanden, und zum Abschluss noch einmal in voller Länge den ESC 2010, den Deutschland bekanntlich gewann. Hierfür ein dickes Dankeschön an alle Verantwortlichen, die es schafften, mehr ESC-Material zu senden als an einem normalen Contest-Abend.

Bei der (sterbenslangweiligen) Ersatzshow aus Hilversum (nein, nicht aus Rotterdam) wurde die Lokalität für 2021 bestätigt, und das wirft nicht nur bei mir Fragen auf. Die Niederlande haben bis auf Weiteres alle Großveranstaltungen untersagt - und eine solche ist der ESC ohne Zweifel. Meiner Meinung nach gibt es in den Schubladen der Verantwortlichen bereits Ersatzpläne für eine eventuelle erneute Absage - vielleicht eine Art Videokonferenz oder Auftritte ohne Publikum. Von beiden Möglichkeiten würde ich übrigens dringend abraten, der ESC ist eine Veranstaltung, die von ihrem Publikum vor Ort lebt, und wie absurd Fußballspiele ohne Torjubel wirken, zeigt gerade die Bundesliga.

Aber selbst wenn es einen regulären Song Contest 2021 geben sollte, wäre er, insbesondere was die Vorbereitungen angeht, alles andere als normal. 18 (Stand heute) der diesjährigen Teilnehmer haben bereits bestätigt, dass die diesjährigen designierten Interpreten auch 2021 antreten sollen. Es ist anzunehmen, dass viele der entsprechenden Lieder intern ausgewählt werden; konkrete Pläne für Vorentscheidungen mit mehreren Künstlern (und oft auch mit mehreren Runden) gibt es insbesondere in Nordeuropa, wo diese Sendungen eine Art Kultcharakter haben - insbesondere "Melodifestivalen" in Schweden ist eine Institution geworden.

Zu den 18 genannten Ländern gehört Deutschland übrigens nicht, obwohl Ben Dolic bereits signalisierte, dass er auch im nächsten Jahr wieder bereit wäre. Nach seinem Auftritt bei der ARD-Show würde ich NDR und ARD allerdings dringend raten, von seiner Direktnominierung abzusehen. Ich liebe das Lied nach wir vor, und erfreulicherweise (und völlig verdientermaßen) wird es im Radio nach wie vor oft gespielt. Auf der Bühne wirkte Ben allerdings mehr als verloren, was nur zu einem kleinen Teil am fehlenden Publikum lag. Er wirkt einfach viel jünger als er ist, was durch seine hohe Stimme noch untermalt wird. Neben den Tänzern auf der Bühne sah er aus wie ein Pfadfinder, der bei der Geburtstagsfeier seiner älteren Schwester verbotenerweise durch den Türschlitz späht, und seine Intention, mit einer der Damen zu flirten, wurde erst zum Schluss klar, als sich die beiden corona-regelkonform auf Abstand anlächelten. Auch hier sah Ben aus wie ein Junge, der Mutti bittet, ausnahmsweise erst um 20 Uhr ins Bett gehen zu müssen. Amouröse, gar (wie im Text impliziert) schmutzige Gedanken nehme ich ihm beim besten Willen nicht ab.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass der Bühnenauftritt einen wesentlichen Teil der Bewertung ausmacht, und dass schon Nuancen dazu führen können, dass ein vermeintlicher Favorit wesentlich schlechter abschneidet als erwartet. Aktuell denke ich da an den Italiener Francesco Gabbani 2017, der vielleicht zu siegessicher war und etwas zu arrogant wirkte - Platz 6 war da schon eine Niederlage. Oder, um in Deutschland zu bleiben, an Corinna May 2002, deren Blindheit international nicht bekannt gegeben werden sollte (um keinen Mitleidseffekt zu erzielen) und deren Bewegungen für unvoreingenommene Zuschauer unbeholfen und befremdlich wirkten. Sie wurde im Vorfeld im erweiterten Kreis der potenziellen Sieger gehandelt, am Ende reichte es nicht einmal für die Top 20. Die Wichtigkeit der Bühnenpräsenz ist übrigens auch der Grund, warum ich meine Prognosen immer erst kurz vor dem Wettbewerb abgebe, wenn ich die Einzelproben gesehen habe.

Mein Vorschlag für 2021 wäre also: Gern dieselben Autoren, aber bitte ein anderer Künstler. Sorry, Ben.

Ich denke, wir werden in den nächsten Monaten noch einige Meldungen zum ESC bekommen - vielleicht erfreuliche, vielleicht überraschende, vielleicht enttäuschende. Jedenfalls wird uns der Konjunktiv II weiter begleiten.

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