Donnerstag, 5. Mai 2022
Erstes Halbfinale 2022
Die Teams haben ihre zweite Probe absolviert, und ich möchte wieder einmal meine Einschätzungen abgeben. Die Bilder und Videos, die nach außen (also auch zu mir) dringen, sind in diesem Jahr allerdings besonders spärlich und gelegentlich wegen ungünstiger Ausschnitte auch nicht sonderlich aussagekräftig. Zudem gibt es größere technische Probleme bei der Bühnendekoration und wohl auch bei der Akustik, und ein Corona-Fall bei der portugiesischen Delegation bringt den Zeitplan durcheinander. Aber wer sich an den ESC 1991 in Rom erinnert, weiß, dass die Italiener auch das größte Chaos irgendwie bewältigen, wenngleich es an den Nerven Angehöriger anderer Nationalitäten zehren mag.

1. Albanien
Ronela Hajati "Sekret"

Albanien liefert in diesem Jahr genau das, was ich aus diesem Land erwarte: Eine stimmgewaltige Sängerin, falsch betontes Englisch sowie rhythmische und ethnische Elemente. Hinzu kommen glücklicherweise genügend landessprachliche Teile, und das Ganze ist stimmig produziert, sodass ich für den Finaleinzug keine Probleme sehe. Dort dürfte es allerdings nicht allzu weit nach oben gehen. Und vielleicht gibt es ja auch einige Zuschauer, die gern eine Walküre mit ihren Haremswächtern sehen möchten.



2. Lettland
Citi Zēni "Eat your salad"

Hier bin ich ratlos, sowohl was die textliche Aussage als auch was die musikalische Umsetzung angeht. Gehören die Letten zu den militanten Veganern, die ihrer gesamten Umwelt ungefragt ihre Ideologie aufdrängen wollen, oder ist das ironisch gemeint, und ich verstehe es nicht? In beiden Fällen habe ich ein eher negatives Gefühl, und wenn es auch den Juroren und den Zuschauern so geht, sehen wir dieses Lied im Finale nicht noch einmal.



3. Litauen
Monika Liu "Sentimentai"

Ein Lied im Retro-Stil, optisch optimal umgesetzt, dazu in Landessprache - viele Punkte, die mich zunächst positiv stimmen. Ich habe Erinnerungen an Cocktail-Partys in den 1970ern. Allerdings passiert meiner Meinung nach, soweit ich das nach diesem Ausschnitt beurteilen kann, auf der Bühne zu wenig, und die an sich gelungene Melodie wirkt ohne weiteren Höhepunkt bald langweilig, sodass sich nach der Hälfte des Liedes schon so etwas wie Langeweile einstellen kann. Ein Weiterkommen ist zumindest kein Selbstgänger.



4. Schweiz
Marius Bear "Boys do cry"

Wie im Vorjahr setzt die Schweiz auf einen männlichen Solisten und eine Ballade. Doch während Gjon schon allein mit seiner Stimme überzeugen konnte und einen guten dritten Platz holte, wirkt Marius eher farblos, und ich denke, er wird es schwer haben, das Finale zu erreichen.



5. Slowenien
LPS "Disko"

Hier spielt sich vor meinem inneren Auge ein Film ab. Bei einem Abi-Abschlussball in Ljubljana, 1980er Jahre, spielt eine Schülerband, dem Anlass entsprechend festlich gekleidet, Musik im Stil von Style Council oder den Blow Monkeys. LPS (das steht für Last Pizza Slice) waren damals noch nicht auf der Welt, sie sind heute im Abiturienten-Alter, aber sie treffen zumindest den damaligen Musikgeschmack. Insgesamt sehr stimmig, aber vielleicht zu altmodisch und auch etwas zu langweilig, ich kann mich nicht genau entscheiden, wie ich die Chancen einordnen kann. Zudem finde ich die große Discokugel in der Bühnenmitte suboptimal, da sich die Bandmitglieder so gegenseitig nicht sehen können.



6. Ukraine
Kalush Orchestra "Stefania"

Wie im Vorjahr schafft es der ukrainische Beitrag, traditionelle Musik mit aktuellen Rhythmen zu verbinden, zusammen mit dem Rap-Teil ergibt sich eine perfekte Symbiose. Eine Qualifikation für das Finale dürfte nur eine Formsache sein, zumal das Lied in einigen Wettquoten sogar als Favorit gilt.



7. Bulgarien

Rock ohne weitere Anreize (sei es musikalisch oder optisch, Pyrotechnik ist ziemlich ausgelutscht) hatte es beim ESC immer schwer, und das dürfte auch für diesem Beitrag gelten. Ihm fehlt einfach das Zielpublikum, und dem Lied der besondere Kick, um dieses zum Einschalten (und Abstimmen) zu bewegen. Einen Finaleinzug halte ich für ausgeschlossen.



8. Niederlande
S10 "De diepte"

Ein schöner Beitrag, von S10 (sprich: Stien) gut gesungen und arrangiert, der seine Schönheit bei mir allerdings erst beim zweiten oder dritten Hören entfacht hat. Ich hoffe, bei anderen Zuhörern geschieht das schneller. Und auch wenn viele Menschen die niederländische Sprache nicht verstehen, könnte die Botschaft auch so funktionieren.



9. Moldau
Zdob şi Zdub & Fraţii Advahov "Trenulețul"

Zdob şi Zdub nehmen nach 2005 und 2011 bereits zum dritten Mal am ESC teil, und wieder versuchen sie, mit Ska und Turbo-Folk gute Laune zu verbreiten. Ich frage mich, ob nicht die Idee und auch die Musiker mittlerweile ein wenig in die Jahre gekommen sind, ein musikalischer Farbtupfer ist der Beitrag allemal.



10. Portugal
Maro "Saudade, saudade"

Saudade - das ist ein Wort, das nur auf Portugiesisch existiert und dort fast so etwas wie ein Lebensgefühl ist - ungefähr kann man es mit Sehnsucht, Heimweh oder Weltschmerz übersetzen. Maro und ihre Begleiterinnen vermitteln diese Stimmung sehr schön, und nach den fast überdreht klingenden Moldauern wirkt das Lied sehr beruhigend. Würde ich etwas Negatives suchen, würde ich den Vortrag vielleicht als langweilig und zu wenig ereignisreich bezeichnen, insgesamt überwiegt aber der Eindruck, dass es sich um ein stimmiges Gesamtes handelt.



11. Kroatien
Mia Dim?ić "Guilty pleasure"

Sorry, mein guilty pleasure kommt in diesem Jahr aus einem anderen Land - aus welchem, verrate ich an einer anderen Stelle. Kroatien bringt Radiopop ohne große Besonderheiten, das Lied ist nett - und 'nett' ist beim ESC schon fast ein Todesurteil.



12. Dänemark
Reddi "The show"

Ich stelle mir vor, dass jemand über rohen Kuchenteig Tomatenmark gibt - schade, aus beiden Komponenten hätte man getrennt voneinander brauchbare Ergebnisse fabrizieren können, so ergibt sich ein ungenießbares Gemisch. Die Däninnen versuchen es zuerst mit einer eher weichgespülten Melodie, um dann in Rockrhythmen zu wechseln - nicht Fisch, nicht Fleisch (so eat your salad!), fürchte ich.



13. Österreich
Lum!x feat. Pia Maria "Halo"

Schließe ich die Augen, dann denke ich an die 1990er Jahre, in denen ich zu 2Unlimited getanzt habe. Beim Hinsehen fällt mir ein DJ auf, der scheinbar wichtig an seinen Drehknöpfen hantiert, obwohl jeder weiß, dass sein Mischpult nicht angeschlossen ist, und das Publikum animiert (ist das wirklich nötig?), daneben eine Frau, die aussieht wie eine 18jährige Österreicherin, was wohl daran liegt, dass sie eine 18jährige Österreicherin ist. Ihre Stimme ist - wie drücke ich es nett aus - ausbaufähig. Dieses Lied funktioniert auf der Tanzfläche, bei der Darbietung auf der Bühne habe ich meine Zweifel. Mit Fake-Djs haben in den letzten Jahren u.a. schon die Polen und die Finnen schlechte Erfahrungen gemacht.



14. Island
Systur "Með hækkandi sól"

Die Isländerinnen bedienen eine ähnliche Zielgruppe wie die Portugiesinnen, aber ich finde sie im direkten Vergleich schwächer. Allerdings gilt auch hier, dass das Lied nach dem temporeichen Vorgänger beruhigend wirkt, zudem ist der Chorgesang sehr harmonisch.



15. Griechenland
Amanda Tenfjord "Die together"

Schwierig. Dieses Lied hat viele Anhänger, ich gehöre nicht unbedingt dazu. Mir ist das Lied zu blass und auch ein wenig zu negativ. Aber auch hier gilt, dass der Beitrag gut produziert und vorgetragen ist, sodass er genügend Stimmen sammeln könnte. Zudem wurde er optisch wirklich gut inszeniert. Sterben würde ich dafür allerdings nicht, auch nicht zusammen mit Amanda.



16. Norwegen
Subwoolfer "Give that wolf a banana"

Bevor er deine Oma frisst, gib dem Wolf eine Banane - allein diese Textstelle sorgt bei mir für gute Laune. Dieses Lied hat alles, was ein ESC-Beitrag braucht: Einen eingängigen Rhythmus, einen einfach zu merkenden Refrain, als optische Besonderheit die Kostüme, und nach den beiden eher ruhigen Nummern vorher ist dieser Beitrag wieder einer, der diverse Körperteile zum Schwingen bringt.



17. Armenien
Rosa Linn "Snap"

Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine Konfirmandengruppe am Lagerfeuer. Ein Mitglied singt ein erbauliches Lied zur Wandergitarre, und beim Refrain stimmen alle mit ein. Ich weiß nicht, ob beim ESC die richtige Zielgruppe vorhanden ist. Allerdings ist die Melodie sehr eingängig, ich habe mich schon dabei ertappt, dass ich das Lied im Supermarkt vor mich hingesummt habe. Die tatsächliche Umsetzung entspricht meinen Vorstellungen überhaupt nicht, auf mich wirkt sie eher farblos.



Ich denke, dass sich diese zehn Lieder für das Finale qualifizieren (in Startreihenfolge):

Albanien
Litauen
Ukraine
Niederlande
Moldau
Portugal
Island
Griechenland
Norwegen
Armenien

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