Freitag, 10. Mai 2019
1. Halbfinale
1. Zypern

Auf mich wirkt der zyprische Beitrag wie eine Kopie des letztjährigen Liedes, sozusagen ein „Replay“, und so ist ja auch der Titel. Das gilt nicht nur für die Musik, sondern auch für den Auftritt, wieder wird die Sängerin von jeweils zwei Begleitern links und rechts begleitet, diesmal sind es Männer, im Vorjahr waren es Frauen.. Meinen Geschmack hat Zypern – wie schon im Vorjahr – nicht getroffen, da sie aber 2018 mit Platz 2 das bisher beste Ergebnis ihrer Eurovisionskarriere erzielt haben, ist es sicher nicht verwerflich, das Konzept noch einmal anzuwenden. Ich gehe daher sicher davon aus, dass sich das Land für das Finale qualifiziert.



2. Montenegro

Sechs Künstler verschiedenen Geschlechts singen ein Lied mittleren Tempos über belanglose Allgemeinplätze – hier zeigt sich, dass „nett“ beim ESC ein vernichtendes Urteil ist, dieses Lied tut niemandem weh, motiviert aber auch niemanden, dafür zu stimmen. Die Verantwortlichen in Montenegro haben, als ihnen die schlechten Urteile bekannt wurden, noch ein paar ethnische Elemente eingestreut, was allerdings nur dazu führte, dass das Gesamtwerk jetzt weniger rund wirkt. Warum fühle ich mich an eine Musical-Aufführung in einer Schulaula erinnert? Keine Qualifikation.



3. Finnland

Darude hatte vor etwa zehn Jahren mit „Sandstorm“ einen internationalen Hit, danach verlor man ihn außerhalb seiner Heimat aus den Augen. Jetzt meldet er sich zurück und hat einen Sänger für sein Werk gefunden. Diese Kombination – ein DJ betätigt ein paar nutzlose Knöpfe, während ein anderer Protagonist singt – hatten wir in den letzten Jahren schon mehrfach, meist mit überschaubarem Erfolg. Das Lied wirkt wie Radiopop aus den 1990ern, es kommt einfach zu spät. Es geht ins Ohr, aber auch gleich wieder hinaus, da nützt auch die Tänzerin nichts.



4. Polen

Vier Mädchen werden in Trachten gesteckt, und mithilfe von Helium hält man sie ruhig, sodass sie sich kaum bewegen und keine Mimik zeigen. Der Einsatz der Gases erklärt auch die unnatürlichen Stimmen. Ich mag ethnische Beiträge, aber dieses Lied ist nicht mein Ding, zudem wirkt die Aufführung sehr statisch. Es findet aber sicher seine Liebhaber, sodass es sich für das Finale qualifizieren wird.





5. Slowenien

Im Gegensatz zum finnischen Beitrag hat der DJ hier offenbar eine Aufgabe, nämlich, seine Begleiterin zu beruhigen (und zudem betätigt er auch noch sein Saiteninstrument). Diese wirkt fast autistisch und singt mit sehr ruhiger und monotoner Stimme zu einem elektronischen Brett, das sphärisch ins Ohr wabert. Vielleicht klingt meine Beschreibung negativ, sie ist aber im Gegenteil sehr positiv gemeint. Das Lied hat allein schon musikalisch ein Alleinstellungsmerkmal, dazu kommt, dass das Verhältnis der beiden Künstler rätselhaft anmutet, vor allem Zala wirkt wie hypnotisiert. Auf der Bühne passiert praktisch nichts, und genau das ist ein Kontrast zu den optischen Explosionen bei anderen Ländern. In jedem Fall bleibt dieses Lied in Erinnerung, ich sehe es sicher im Finale.




6. Tschechien

Seit ich dieses Lied zum ersten Mal gehört habe, hat es sich in meinem Ohr festgesetzt. Ein wenig muss ich an Jamiroquai denken. Easy-Listening-Pop, leicht und flockig von einem Sänger präsentiert, der wie ein Oberschüler wirkt, tatsächlich aber schon einige Jahre älter ist. Seine beiden Begleiter und er sind eher einfach in schlichten Farben gekleidet, dieser Beitrag versucht erst gar nicht, einen tieferen Sinn oder großen Anspruch vorzutäuschen, und gerade dadurch wirkt er auf mich sehr glaubwürdig. Persönlich kann ich sagen, dass ich dieses Lied und auch seinen Auftritt liebe, allerdings habe ich kleine Zweifel, ob er auffällig genug präsentiert wird. Trotzdem, wenn ich mir das Ganze professionell anzuhören versuche, bin ich von einer Qualifikation fürs Finale überzeugt.



7. Ungarn

Das ist ein ethnischer Beitrag, wie er mir gefällt. Joci hat sein Land schon einmal vor zwei Jahren vertreten und schnitt passabel ab, ich glaube, das wird ihm auch diesmal gelingen, auch wenn sein Lied weniger eingängig ist als beim letzten Mal. Ich denke, dies ist ein sicherer Qualifikant fürs Finale.



8. Weißrussland

Ich werde, nein, ich bin alt. Ich kann mit dieser Art von Musik überhaupt nichts anfangen, was natürlich gegen mich und nicht notwendigerweise gegen das Lied spricht. Ich sehe einen Teenager, der unbeholfene Bewegungen macht und zusammenhanglosen Blödsinn von sich gibt, das ganze unterlegt von einem künstlichen Rhythmus. Ich bin mir sicher, dass dieser Beitrag seine Anhänger hat, vielleicht wäre ich auch einer, wäre ich jünger. Ich weiß aber nicht, ob diese zur Zielgruppe der Veranstaltung gehören. Ich tendiere also dazu, dass wir Weißrussland im Finale nicht wiedersehen.



9. Serbien

Da ist es also – in jedem Jahr gibt es eine Frau vom Balkan, die sich klagend die Seele aus dem Leib schreit, diesmal kommt sie also aus Serbien. Diese Art von Musik höre ich genau einmal jährlich, ich weiß, dass sie im Südosten Europas viele Anhänger hat. Der Beitrag ist gut und professionell produziert, Nevena wirkt glaubhaft, ich denke, es wird für die Qualifikation reichen.



10. Belgien

In Belgien wählt immer abwechselnd das flämisch- oder das französischsprachige Fernsehen den Beitrag aus; diesmal sind wieder die Wallonen an der Reihe. Vor vier und vor zwei Jahren erreichten sie mit ihren exzellenten Liedern jeweils die Top 5, dementsprechend hoch waren meine Erwartungen. Ich bin ein bisschen enttäuscht, mir fehlen das letzte Quäntchen Eingängigkeit der Melodie und Charisma des Interpreten. Allerdings klage ich hier auf sehr hohem Niveau, der belgische Beitrag gehört deutlich zu den besseren des Jahrgangs, die Qualifikation dürfte eigentlich kein Problem sein. Ein weiterer Kritikpunkt ist allerdings die optische Umsetzung. Was haben diese merkwürdigen Kostüme und die Trommeln mit diesem Lied zu tun? Stört die Optik mehr als dass sie hilft? Für mich deshalb ein Wackelkandidat



11. Georgien

Ein Druide mischt ein paar Zaubertränke und beschwört mit magischen Formeln die Geister – das sind die Assoziationen, die ich bei diesem Lied habe. Ich bewundere den Mut und die Kreativität Georgiens, schon mehrfach haben wir sehr außergewöhnliche Lieder aus diesem Land gehört, so auch diesmal. Ich bezweifle aber, dass es genügend Menschen gibt, die sich für diese Klänge begeistern können, eine Qualifikation halte ich daher für fast ausgeschlossen.



12. Australien

Dieser Beitrag lässt mich ratlos zurück. Was bitteschön ist das? Ist es Crossover – was soll dann die groteske Kostümierung? Oder ist das Comedy? Wie auch immer, mich erreicht es nicht, und ich denke, den meisten Zuschauern wird es ähnlich gehen. Ich glaube nicht an einen Auftritt im Finale.



13. Island

Gleich vorweg: Ich habe eine abgrundtiefe Aversion gegen diesen Beitrag. Zum einen ist da die Musik, die mich überhaupt nicht anspricht. Martialisches Gegröle wie bei Rammstein wird mit 90er-Jahre-Klängen gemischt, von denen ich gehofft hatte, dass sie für immer vergessen sind. Das ist mein persönlicher Geschmack, der natürlich überhaupt nicht maßgebend ist. Hinzu kommen aber Äußerungen der Band, die mich besorgt aufhorchen lassen. Sie lehnen die israelische Politik ab (das ist natürlich ihr gutes Recht) und wollen die Plattform für Proteste nutzen, was ich sehr bedenklich finde. Die Palästinenser haben im Rahmen der jüngsten Konflikte angekündigt, den ESC stören zu wollen, die Sicherheitskräfte sind also bereits mehr als genug ausgelastet. Zusätzlich Unruhe stiften zu wollen, halte ich für grob fahrlässig. Vor genau 50 Jahren protestierte Österreich gegen das damalige Regime in Spanien und boykottierte daher den Wettbewerb in Madrid. Diese Weisheit hätte ich mir auch von den Isländern gewünscht. Dieser Beitrag polarisiert wie kaum ein anderer, ich denke, er wird sich für das Finale qualifizieren.



14. Estland

Wie die finnischen Nachbarn präsentieren auch die Esten klassischen Radiopop, der niemandem wehtut. Der Sänger ist Schwede, und das merkt man auch – professionelle Musik ohne Ecken und Kanten kommt meist von dort. Ich möchte beim ESC Musik hören, mit der ich nicht jeden Tag aus dem Radio beschallt werde; allerdings ist das Lied gut gemacht. Eine Qualifikation dürfte aber schwierig sein, zu verwechselbar ist der Beitrag. Und nebenbei: Täusche ich mich, oder höre ich bei den hohen Tönen im Refrain einen starken Chor und einen schwachen Victor?



15. Portugal

An der Volkshochschule Lissabon haben sich die Kurse „Ausdruckstanz für Epileptiker“, „Asynchrone Klänge“ und „Ungewöhnlicher Schmuck“ zusammengetan, um einen ESC-Beitrag zu kreieren, der in jedem Fall einen Sieg verhindern soll, schließlich war man erst im letzten Jahr Gastgeber. So stelle ich mir die Entstehung dieses Beitrags vor. Welche Drogen muss man nehmen, um sich so zu präsentieren? Dieses Lied liegt weit außerhalb meines Musikkonsums, ich kann mir beim besten Willen kein Urteil darüber erlauben. Ist das Kunst oder kann das weg? Allerdings sehe ich, dass es durchaus seine Anhänger hat, ich denke also, eine Qualifikation dürfte möglich sein. Auch hier gilt, dass es polarisierende Lieder beim ESC einfacher haben als durchschnittliche.



16. Griechenland

Respekt, liebe Griechen. Ihr habt mit es mit Bravour geschafft, konventionelle und eingängige Musik mit außergewöhnlichen Elementen zu kombinieren – allein die Stimme der Sängerin ist so besonders, dass sie aufhorchen lässt. Die gute Startnummer und die Nachbarschaftspunkte aus Zypern lassen die Qualifikation fürs Finale zur Formsache werden. Die Bühnenshow ist sehr angenehm, insgesamt ist mein Gesamteindruck zu diesem Lied sehr positiv.



17. San Marino

Serhat wurde wie ich 1964 geboren, er wuchs als Teenager auch mit den Klängen des Disco-Sounds auf, und offenbar hat das bei uns beiden bleibende Folgen hinterlassen. Wenn ich den sanmarinesischen Beitrag höre, fühle ich mich sofort 40 Jahre jünger, ich sehe Lichtorgeln und Discokugeln, und mein gesamter Körper wippt im Rhythmus eines mitreißenden Liedes mit völlig belanglosem Text, der dafür sorgt, dass ich permanent „Say Na Na Na“ vor mich hinsinge. Mein „Guilty Pleasure“ dieses Jahr, ein Lied, das ich ganz unabhängig von seinem Abschneiden noch oft hören werde. Ein bisschen Wunschdenken ist dabei, aber ich denke, dieses Gute-Laune-Feuerwerk am Ende des Abends könnte die Juroren und die Zuschauer bewegen, diesen Beitrag ins Finale zu wählen.



Hier ist meine Prognose – ich denke, diese Länder qualifizieren sich für das Finale am Samstag (in Reihenfolge des Auftritts):

Zypern
Polen
Slowenien
Tschechien
Ungarn
Serbien
Island
Portugal
Griechenland
San Marino

Das Halbfinale findet am Dienstag, 14.5.19, um 21 Uhr MESZ statt, in Deutschland ist es u.a. auf ONE übertragen.

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Sonntag, 5. Mai 2019
Eurovision Song Contest 2019
In den folgenden Tagen werde ich, zeitnah zu den jeweiligen Ereignissen, meine Einschätzungen zu den Liedern des diesjährigen ESC nennen. Zu jedem Lied sage ich meine persönliche Meinung und meine Prognose, was das Ergebnis im Wettbewerb angeht - das muss nicht übereinstimmen. Gerade für letztere Einschätzung ziehe ich auch die Bilder von den Einzelproben in Tel Aviv, die bereits begonnen haben, heran, sodass ich meine Einträge relativ kurz vor den Halbfinal- bzw. Finalrunden veröffentliche. Und danach erkläre ich natürlich auch, warum ich so weit daneben gelegen habe :-)

Hier sind zur Einstimmung Schnelldurchläufe der Lieder, die an den Semifinals teilnehmen:



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