Sonntag, 20. Dezember 2020
Türkvizyon 2020
Respekt, liebe Türken - mehr als fünf Stunden für einen Wettbewerb mit 26 Teilnehmern, das haben nicht einmal die Israelis beim ESC geschafft... doch der Reihe nach.

Der Türkvizyon Song Contest wurde nach fünfjähriger Pause am 20.12.20 zum vierten Mal ausgetragen, aufgrund der Corona-Pandemie online, also ohne Publikum.

Vermutlich aus Wettbewerbsgründen traten alle Teilnehmer auf der gleichen Bühne auf, 24 Länder und Regionen entsandten Solisten, zwei Duos. Die Akteure wurden offenbar angewiesen, sich nicht vom Platz zu bewegen, sodass keinerlei Choreographie möglich war. Einige Interpreten waren professionell genug, um zumindest durch ein paar Bewegungen optische Anreize zu schaffen, andere wirkten während ihres gesamten Vortrags statisch. Besonders fiel mir das beim irakischen Sänger auf, in dessen Lied ein längeres Instrumentalteil vorkam, bei dem er offenbar nicht wusste, wie er es überbrücken sollte. Ganz anders die Teilnehmerin aus Sacha-Jakutien, die aufgedreht wie ein Duracell-Häschen agierte.

Während viele männliche Akteure wirkten, als seien sie Stubsauger-Vertreter, die nach getaner Arbeit im Dorfkrug einkehrten, überlegten sich einige ihrer Kolleginnen, wie sie optisch in Erinnerung bleiben können. Die Aserbaidschanerin wirkte sowohl wie eine Braut als auch wie ein Burgfräulein, die Kirgisin erweckte den Eindruck, als könne sie gut Reifen wechseln, und die Belarussin trug ein Geschmeide wie aus 1001 Nacht, was ein interessanter Kontrast zu ihren langen blonden Haaren war. Interessant fand ich auch den Künstlernamen der Vertreterin Moskaus - Olga Napoli, was kommt als nächstes, Sergej Milano?

Deutschland wurde von Seyran vertreten, der in Köln lebt und in vielen Sprachen singt. Einem größeren deutschen Publikum wurde er 2019 als Teilnehmer von "The Voice of Germany" bekannt, international war er schon vorher in Erscheinung getreten, z.B. 2011 als Sieger des "Golden Melody Song Festival". Er belegte mit dem selbstgeschriebenen Lied "Odun" Platz 8, das bisher beste Ergebnis Deutschlands. Mein Türkisch-Wörterbuch übersetzt "Odun" mit Holz, ein sprachkundiger Freund wies mich aber darauf hin, dass das Wort auf Aserbaidschanisch, der Muttersprache Seyrans, "Dein Feuer" bedeutet, was wohl die wahrscheinlichere Möglichkeit ist - danke Ali!



Wie in diesem Video ersichtlich, bestand das Bühnenbild aus so etwas wie konzentrisch blinkenden Lichtern, je nach Beitrag variierte die Farbe zwischen türkis und blau, was die einzige Abwechslung war - angesichts der statischen Vorträge wirkte die Sendung leicht ermüdend. Hinzu kommt, dass die Reaktion des Publikums fehlte, und dass aufgund der Vorschriften optische Elemente wie Tanzdarbietungen oder auch exotische Instrumente fehlten. Schade, diese Darbietungen habe ich in der Vergangenheit sehr genossen.

Auch die drei Moderatoren (zwei von ihnen weiblich, einer männlich) standen wie festgenagelt auf der Bühne - übrigens in Istanbul, aber das war angesichts der Tatsache, dass alle Teilnehmer in ihren Herkunftsländer waren und keine Zuschauer vor Ort sein konnten, eher nebenrangig.

Als nach den Darbietungen, die mehrfach von Werbeeinspielungen unterbrochen wurden (wurden da wirklich Feuerlöscher angeboten?) , ein Schnelldurchlauf folgte, war ich recht dankbar, denn ich hatte alle Lieder zum ersten Mal gehört. Allerdings wurde dieser kommentarlos wiederholt. Und noch einmal. Und noch einmal. Ich glaube, es waren 10 Durchläufe, irgendwann habe ich aufgehört zu zählen, und ich frage mich, wofür - schließlich war keine Publikumsabstimmung, beispielsweise per Telefon, möglich, und eine langwierige Koordination der Jurys war auch nicht nötig, da diese jeweils nur aus einer Person bestand. Als dann das Ergebnis ermittelt wurde, ging alles sehr schnell - zu schnell für meinen Geschmack, zu jedem Lied wurden sehr kurz die einzelnen Bewertungen eingeblendet, Zwischenergebnisse oder auch nur Gesamtsummen der Lieder gab es nicht, und am Ende wurde das Gesamtergebnis gezeigt. Sieger wurde das Lied "Tikenli yol", das auf Gagausisch von Natalia Papazoğlu für die Ukraine gesungen und auch selbst geschrieben wurde.



Ich weiß nicht, ob sich die Verantwortlichen des ESC 2021 den Türkvizyon Song Contest angesehen haben, um eventuell Anregungen zu bekommen, falls auch dieser Wettbewerb ohne Publikum stattfinden muss. In diesem Fall haben sie zumindest gesehen, was man falsch machen kann: Das immergleiche Bühnenbild wirkte mit der Zeit ermüdend, gleiches gilt für die Interpreten, die sich offenbar nicht vom Platz bewegen durften. Die Vielzahl der Schnelldurchläufe war, freundlich gesagt, überflüssig, zumal sie mangels Publikumsabstimmung wie erwähnt auch völlig sinnlos war. Ein bisschen mehr Transparenz bei der Punktevergabe wäre auch nett - aber diesbezüglich hat der ESC ja Erfahrung. Und insgesamt ist das Publikum ein so wesentlicher Faktor, dass man, wann immer es geht, nicht darauf verzichten sollte.

Ich habe alle bisherigen Ausgaben des Türkvizyon Song Contests gesehen, der diesjährige gefiel mir mit Abstand am wenigsten. Ich möchte Tänze und Instrumente sehen, von deren Existenz ich bis dahin nichts wusste, und ich möchte von Kehlkopfgesang und anderen musikalischen regionalen Spezialitäten überrascht werden - all das war in diesem Jahr nicht möglich. Vielleicht gibt es 2021 wieder eine reguläre Ausgabe - inshallah.

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