Samstag, 11. Mai 2019
2. Halbfinale
1. Armenien

Seltsam – ich habe alle diesjährigen Wettbewerbslieder mehrmals gehört, aber ich kann mich beim besten Willen nicht an den armenischen Beitrag erinnern. Jetzt habe ich ihn noch einmal laufen lassen, und er ist mir einfach zu sperrig, deshalb will er sich nicht in meinem Kopf festsetzen. Zweifelsohne handelt es sich um eine gute Produktion, nur finde ich einfach keinen Zugang dazu. Die Bühne ist sehr dunkel gehalten, Srbuk steht allein in wenig vorteilhafter Kleidung dort, ich fürchte, sie wird es in diesem Halbfinale, das ich für wesentlich stärker besetzt halte als das erste, schwer haben.



2. Irland

Dieses Lied fand ich anfangs nichtssagend, inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und mag es. Es ist – im positiven Sinn – ein durchschnittlicher Popsong, gesungen von einer guten Interpretin, und die Umsetzung im 50er-Jahre-Stil tut ihm gut. Leider fehlt ihm so etwas wie ein Höhepunkt, sodass er nach etwa zwei Minuten langweilig wird – auch hier gilt, dass die Konkurrenz vielleicht zu stark ist.



3. Moldau

Ich kenne den Komponisten, Georgios Kalpakidis, genannt Gorgi, seit gut anderthalb Jahrzehnten, und ich schätze ihn als sehr vermittelnden und weltoffenen Menschen. Er hat schon viele Lieder bei Eurovisionsvorentscheidungen in mehreren Ländern wie Litauen oder Portugal eingereicht, diesmal hat es endlich geklappt. Was soll ich sagen? Ich finde das Lied, sorry Gorgi, einfach nur langweilig. Und vielleicht ist das der Grund, warum mit Sandmalerei versucht wird, die Aufmerksamkeit vom Beitrag auf das Bühnenbild zu lenken, beim ukrainischen Lied 2011 hat genau das ja auch geklappt. Ich fürchte allerdings, diesmal hilft es nicht. Versuch es bitte weiter, Gorgi, ich bin sicher, wir sehen deine Lieder bald im Finale.



4. Schweiz

Die Schweiz hat es in den letzten 25 Jahren genau einmal geschafft, sich unter den ersten 10 zu platzieren, diesmal aber zählt sie zum engeren Favoritenkreis. Was ist passiert? Nun, die Schweizer haben einfach alles richtig gemacht. Luca Hänni hat 2012 als Teenager DSDS gewonnen und konnte seitdem einen Fankreis aufbauen. Er hat oft bewiesen, dass er nicht nur gut live singen, sondern auch tanzen kann. Gemeinsam mit seinen Begleitern stellt er eine Szene in einer lateinamerikanischen Bar da, dazu passt, dass das Lied an den 2017er Sommerhit „Despacito“ erinnert, auch ein paar orientalische Elemente wurden eingesprengt. Zur noch besseren Wiedererkennung wurden die Worte „Dirty dancing“ mehrfach in den Refrain eingepflegt. Ich denke, die Qualifikation für das Finale ist nur eine Formsache, vielleicht erreicht Luca (der auch Co-Autor ist) das beste Schweizer Ergebnis seit 1993 (damals war es Platz 3). Eins aber stört mich: Luca wirkt auf mich kein bisschen „rowdy-rowdy (Zitat aus dem Lied)“, ich würde ihm den Ziegenpeter auf der Alm eher abkaufen als den Latin Lover. Trotzdem: Daumen hoch, liebe Nachbarn!



5. Lettland

Wenn ich an einem lauen Frühlingstag auf der Terrasse vor einem Café sitze, einen Cappuccino trinke und dieses Lied höre, geht es mir gut – das ist perfekte Kaffeehausmusik. Dementsprechend wird es auch nicht aufdringlich, sondern im Gegenteil sehr zurückhaltend präsentiert, man fühlt sich an eine Barsängerin erinnert, die von einer Band begleitet wird. Ich fürchte allerdings, dass dieses Lied gegen die teilweise recht auffällige Konkurrenz untergehen wird – Hintergrundmusik eben. Schade.



6. Rumänien

Bin ich der Einzige, der beim Namen der Sängerin (Ester Peony) an den Osterhasen, also Easter Bunny, denkt? Egal, Rumänien hat sich nach einer skandalumwitterten Vorentscheidung, auf die ich hier nicht eingehen möchte, für einen Außenseiter entschieden. Positiv ist, dass das Lied „anders“ ist, der Rhythmus aus Triolen und großer Trommel setzt sich schnell im Gedächtnis fest. Die morbide Inszenierung ist Geschmackssache, auf mich wirkt Ester wie ein Zombie, vielleicht ist genau das auch ihre Absicht. Jedenfalls sticht der Beitrag aus der Masse heraus, und das ist kein Nachteil. Ich denke, er ist ein Wackelkandidat für das Finale.



7. Dänemark

Ein unschuldiges Mädchen sitzt mit ebenso brav aussehenden Begleitern auf einem viel zu großen Stuhl und lässt die Beine baumeln. Dazu singt sie ein biederes Kinderlied voller Plattitüden, in dem ein paar Worte Dänisch, Deutsch und Französisch versteckt sind. Das Ganze wird von einem Rhythmus begleitet, der an den 90er-Jahre-Hit „Lemon Tree“ erinnert. Nicht mein Ding, aber dieser Beitrag hat durchaus seine Anhänger, ich würde ihn daher nicht abschreiben.



8. Schweden

Ich gebe zu, dass ich eine Abneigung gegen Schweden beim ESC habe. Das Land wird immer dominanter, und die Beiträge wirken perfekt – und das meine ich negativ, im Sinne von steril. Umso überraschter bin ich, dass mir der diesjährige Beitrag wirklich gut gefällt. Der gospelartige Refrain wird mitreißend präsentiert, er wirkt fast hymnisch, und der Ruf „Hear me!“ bleibt im Ohr. Sollte Schweden wieder einmal einen Spitzenplatz belegen, wäre ich durchaus einverstanden. Natürlich hören wir dieses Lied im Finale.



9. Österreich

Es ist viele Jahre her, dass ein ESC-Kommentator zutreffend feststellte, dass die österreichischen Beiträge teils bemerkenswert, teils merkwürdig seien. In diesem Jahr trifft beides zu. Pænda wispert zeitweise mehr, als dass sie singt, und ihr gelingt das Kunststück, dass ihre Ballade gleichzeitig kraftvoll und zerbrechlich wirkt. Die Bühne ist voll auf sie fixiert, sie steht dort allein, aber es gelingt ihr, den Raum auszufüllen. Respekt! Allerdings glaube ich, dass sie nach den Schweden untergeht, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das Finale erreichen wird.



10. Kroatien

Roko hat eine sehr schöne Stimme, auch wenn er sie manchmal am Zeilenende etwas überdehnt, aber das kann auch nur mein Eindruck sein. Die Komposition und die Präsentation bewegen sich an der Grenze zum großen Kitsch, die Zuschauer werden vermutlich unterschiedlich entscheiden, in welche Richtung das Pendel ausschlägt. Mich erreicht das Lied nicht, was um alles in der Welt sollen diese Flügel, aber ich denke, eine Qualifikation ist nicht ausgeschlossen.



11. Malta

Eine temporeiche, zeitgemäße Nummer aus Malta – dass ich das noch erleben darf! Die Bühnenausstattung ist sehr bunt, passt aber zum Lied. Ich merke übrigens wieder einmal, dass ich alt bin, denn ich habe permament den 80er-Jahre-Hit „Karma Chameleon“ von Culture Club im Ohr. Aber das nur nebenbei. Eine gute Nummer, die nach zwei eher ruhigen Liedern auffällt, was sich positiv auf die Qualifikationschancen auswirken dürfte. Allerdings: Ich finde, Michela ist stimmlich nicht ganz auf der Höhe. Vielleicht ist das aber bei diesem Lied auch nicht so wichtig.





12. Litauen

Hier bemängle ich etwas, was ich später, nämlich bei den Niederlanden, positiv beurteilen werde: Mich stört der Wechsel zwischen Kopf- und Bruststimme, weil ich keinen Grund dafür sehe. So wirkt der Gesang auf mich unrund, insgesamt ist es eher klassischer Radiopop, der in dieser starken Konkurrenz vermutlich untergehen wird, auch optisch bleibt er nicht in Erinnerung. Keine Qualifikation.



13. Russland

Rückblende: 2006 belegte der in seiner Heimat sehr populäre Dima Bilan für Russland den zweiten Platz, zwei Jahre später kam er zurück, wurde von einem Stargeiger und einem Eiskunstlauf-Olympiasieger begleitet und gewann – viele Beobachter sind der Meinung, dass sein zweiter Beitrag der schwächere war. 2016 wurde Sergey Lazarev Dritter, die Zuschauerabstimmung gewann er sogar. Er war als Teenager Mitglied der Gruppe Smash und ist seither in vielen osteuropäischen Ländern ein Star. Hinter seinem neuen Lied steht das gleiche Team wie vor drei Jahren, u.a. mit Filip Kirkorov; diesmal entschieden sie sich für eine kraftvolle Ballade, die in jedes Andrew-Lloyd-Webber-Musical gut passen könnte. Bei der optischen Umsetzung wurde, wie vor drei Jahren, nichts dem Zufall überlassen, es wird geklotzt, nicht gekleckert. Die russischen Verantwortlichen sind aber Profi genug, um die Darbietung nicht überladen wirken zu lassen, sondern sehr beeindruckend und ansprechend. Objektiv ist dies ein Siegerkandidat, allerdings könnte hier die Politik eine Rolle spielen, ich hatte schon 2016 den Eindruck, dass die Jurys bewusst weniger Punkte vergaben, um einen ESC in Russland zu verhindern. Die Qualifikation fürs Finale ist aber absolut sicher.



14. Albanien

Alles richtig gemacht, liebe Albaner! Dieses Lied bringt Tempo und ethnische Einflüsse in genau dem richtigen Maß, das Leute, die hiervon keine Freunde sind, nicht abschreckt. Zudem hat Jonida eine sehr angenehme und kraftvolle Stimme, die gut mit dem Chor harmoniert, und auch die albanische Diaspora in vielen Ländern wird vermutlich helfen, das Lied ins Finale zu befördern.



15. Norwegen

Zwei Norweger trafen sich. „Ich war sehr enttäuscht, dass Finnland im letzten Jahr so schlecht abgeschnitten hat.“ „Ja stimmt, man müsste noch einmal einen Beitrag im Geist dieses Liedes einreichen.“ „Geist – Spirit – das wäre doch ein schöner Titel.“ „Ja, oder ‚Spirit in the sky‘?“ „Das gab es doch früher schon mal!“ „Egal, das kennt doch keiner mehr. Und hatten die Rednex nicht auch mal was mit Spirit?“ „Ja, das war ‚Spirit of the hawks‘, vielleicht wäre das ganz gut für den Stil und den Rhythmus.“ „Ein paar ethnische Einflüsse kommen auch gut – wie wäre es, wenn wir einen Joiksänger ein paar zusammenhanglose Worte knödeln lassen?“ „Perfekt, daraus basteln wir einen Beitrag. Ballermann Nordkap, wir kommen!“ Ich fürchte, dass es genügend Menschen gibt, die für dieses zusammengeflickte Machwerk stimmen, und dass Norwegen das Finale erreicht.



16. Niederlande

Perfekt – das ist meiner Meinung nach das passendste Wort für diesen Beitrag. In Umfragen und bei den Buchmachern liegt dieser Beitrag ganz vorn, völlig zurecht, wie ich finde. Duncan singt ein trauriges Lied über eine Liebe, die endet, bevor sie beginnen konnte, weil einer der Beteiligten verstirbt. Der Satz „Loving you is a losing game“ nimmt daher auch eine zentrale Position ein. Duncan singt traurig, verzweifelt, aber seine Stimme wird nicht brüchig, der Wechsel aus Kopf- und Bruststimme wirkt hier, anders als beim litauischen Lied, sehr stimmig, ich komme nicht aus dem Schwärmen heraus. Ich hoffe inständig, dass den Niederlanden der Favoritenstatus nicht zu Kopf steigt, und dass sie auch beim alles entscheidenden Auftritt alles geben – dann sind sie ein heißer Favorit auf den Gesamtsieg, den ersten für das Land seit 44 Jahren. Hat da wirklich jemand gefragt, ob sie sich fürs Finale qualifizieren?



17. Nordmazedonien

Bei diesem Lied stimmt alles. Das #metoo-Thema wird auf den Stolz fokussiert, und Tamara bringt dazu eine kraftvolle Ballade, dabei vergisst sie die eurovisionstypischen Steigerungen nicht. Die Frage bleibt aber, ob sich das Lied nach den Niederlanden behaupten kann. Die Startnummer ist gut, sodass ich vorsichtig optimistisch bin – zu wünschen wäre es diesem Team.



18. Aserbaidschan

Wie immer kauft man ein ausländisches (vorzugsweise schwedisches) Produkt ein und kombiniert es mit einem einheimischen Interpreten. Ich gebe zu, ich hatte dieses Lied im Vorfeld wenig auf Rechnung, mittlerweile hat es sich bei mir aber in den erweiterten Favoritenkreis gemausert – mein persönlicher Aufsteiger dieser Tage. Das Gesamtpaket stimmt, mal sehen, wie dieses Lied abschneidet. Ich sehe es in jedem Fall im Finale.



Mein Tipp für die Qualifikanten zum Finale (wieder in Startreihenfolge):

Schweiz
Dänemark
Schweden
Malta
Russland
Albanien
Norwegen
Niederlande
Nordmazedonien
Aserbaidschan

Das zweite Halbfinale findet am Donnerstag, 16.5., um 21 Uhr MESZ statt und wird in Deutschland von ONE übertragen.

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