Sonntag, 8. Dezember 2019
Rückblick auf das Jahrzehnt
Nicht nur das Jahr 2019, sondern auch die 2010er Jahre sind in ein paar Wochen vorüber – ich möchte gern auf das Jahrzehnt zurückblicken.

Ich stelle fest, dass der Enthusiasmus, der mich viele Jahre mit dem ESC verband, deutlich abgekühlt ist. In den 1970ern nahm ich die Wettbewerbslieder per Mikrofon und Kassettenrekorder vom Fernsehen auf, in den 1990ern veranstaltete ich ESC-Partys mit manchmal 30 Gästen und mehreren Fernsehteams, in den 2000ern besuchte ich mehrere internationale Wettbewerbe und nationale Vorentscheidungen – nichts davon ist übrig, ich höre mir nach wie vor die Beiträge vorher an und versuche, sie einzuschätzen, aber ich verfolge die Auswahlsendungen der einzelnen Länder schon lange nicht mehr, und ich sehe mir die Wettbewerbe auch nach der Ausstrahlung kein weiteres Mal mehr an, die meisten der Lieder dieses Jahrzehnts habe ich schon wieder vergessen.

Ich weiß, dass ich mit meiner Meinung ziemlich allein dastehe, aber ich wünsche mir die Spielregeln, die bis 1996 galten, zurück – Live-Orchester, Landessprache, ausschließliche Jurywertung – ich weiß, dass ich die Zeit nicht zurückdrehen kann, aber der ESC ist in meinen Augen zu beliebig geworden. In manchen Augen mag ich altmodisch oder spießig sein, aber das Kürzel ESC steht für einen Liederwettbewerb, bei dem nicht die spektakulärste Show bewertet werden soll, sondern die stimmigste Komposition. Bei den deutschen Vorentscheidungen Anfang der 1970er hieß es immer so schön, dass sich die Interpreten freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Heute übertrumpfen sich viele Länder mit spektakulärer Artistik, visuellen Effekten und ausgefeilter Choreographie. Statt auf durchdachte Lieder setzt man auf optische Skurrilitäten wie tanzende Strichmännchen oder plätzchenbackende Seniorinnen. Der Zweck hierbei ist, beim Fernsehpublikum in Erinnerung zu bleiben, damit dieses in großer Zahl anruft – den Sinn hiervon habe ich noch nie verstanden, wenn ich beispielsweise einen medizinischen Rat brauche, einen Antrag stelle oder mit dem Bus fahre, vertraue ich auf die jeweiligen Fachleute, warum soll bei der Bewertung von Musik die breite Masse abstimmen, bei der ich sicher bin, dass viele Leute nicht alle Beiträge konzentriert gehört haben oder auch nur über eine gewisse musikalische Grundkompetenz verfügen? Das Ergebnis soll offenbar kommerzieller Erfolg sein – aber abgesehen vom Siegertitel 2012, „Euphoria“ von der Schwedin Loreen, konnte keines der über 400 Wettbewerbslieder des letzten Jahrzehnts in den Verkaufslisten überzeugen.

Zurück zu den Wurzeln – das bringt mich zum ersten Lied, an das ich erinnern möchte. 2017 sang ein Portugiese ein sanftes Lied im Walzerrhythmus und in seiner Landessprache, das genauso auch schon mehrere Jahrzehnte früher am ESC hätte teilnehmen können. Seine Gestik und Mimik wirkte beseelt und verschroben, und er verzichtete auf jede Art von optischer Unterstützung. Er gewann haushoch, und für mich brachte er die Essenz des Wettbewerbs zurück, weshalb ich „Amar Pelos Dois“, gesungen von Salvador Sobral und geschrieben von seiner Schwester, zu den ewigen Sternstunden des ESC zähle.



Das gelungenste Gesamtpaket kam für mich 2015 aus Belgien. Der damals gerade 19jährige Loïc Nottet war damals nicht nur Sänger, sondern auch Autor und Choreograph des belgischen Beitrags „Rhythm Inside“, und die Textzeile „We‘re gonna rap-bap-bap tonight“ blieb im Gedächtnis. Loïc Nottet gehört zu den wenigen Künstlern, deren Karriere ich auch nach dem ESC noch verfolge, ich mag seine außergewöhnliche Stimme, und seine ausgefeilten Videos überraschen mich immer wieder. Er ist immer noch jung, ich hoffe, dass er auch außerhalb seiner Landesgrenzen seinen Weg noch machen wird.



Die speziellen, besonderen und extravaganten Lieder, von denen wir früher eine ganze Reihe hören durften, werden immer seltener. Um so mehr freue ich mich, wenn ein solcher Titel im Wettbewerb auch noch erfolgreich ist – so geschehen 2012, als Rona Nishliu Albanien mit dem Lied „Suus“ vertrat und Platz 5, das bis heute beste Ergebnis des Landes, belegte. Ihre Frisur blieb ebenso in Erinnerung wie ihre vokale Akrobatik, und wie auch beim bereits angesprochenen Portugiesen schadet es dem Lied überhaupt nicht, dass der durchschnittliche Zuschauer und -hörer kein Wort versteht, weil die gesamte Interpretation einfach stimmig ist.



Das soll meinen kleinen Rückblick auf die 2010er Jahre auch schon beenden. Abgesehen von der bereits angesprochenen visuellen Überfrachtung wünsche ich mit für die 2020er Folgendes:

1. Weniger Moderatoren – vier sind einfach zu viel, egal, wie sie geschlechtsmäßig aufgeteilt sind. Dass auch eine Person allein durch den Abend führen kann, zeigte die Schwedin Petra Mede 2013.

2. Keine internationalen Stars, die mit dem ESC nichts zu tun haben, als Pausenfüller, wie zuletzt Madonna oder Justin Timberlake. Sie lassen die Wettbewerbsteilnehmer, von denen die allermeisten den größten Auftritt ihres Lebens haben, wie Statisten aussehen.

3. Keine Reanimation von Künstlern, die den Zenit ihrer Karriere schon vor mehreren Jahrzehnten hatten (wie Bonnie Tyler oder Engelbert Humperdinck). Mit ihren Auftritten tut man wirklich niemandem einen Gefallen, sondern zerstört schlimmstenfalls Illusionen.

4. Australien sollte als einmaliger Teilnehmer beim sechzigsten ESC 2015 eine Ausnahme sein, seitdem ist es aber regelmäßig im Wettbewerb. Der ESC ist eine Veranstaltung der Europäischen Rundfunkunion EBU und deren Vollmitgliedern vorbehalten; Australien gehört nicht dazu.

In wenigen Tagen beginnt mit der albanischen Vorentscheidung die heiße Phase des ESC 2020. Ich werde sie, wie in den vergangenen Jahren, interessiert und unaufgeregt verfolgen und kurz vor den Live-Übertragungen wieder meine Einschätzung abgeben. Und ich bin mir sicher, dass ich in genau einem Jahr die meisten Beiträge des Jahres vergessen habe.

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