Donnerstag, 13. Mai 2021
Erstes Halbfinale 2021
Vorbemerkung: Ich habe die Texte zu den einzelnen Liedern bereits vor Beginn der Proben geschrieben, weil nicht klar war, wie weit die EBU entsprechendes Material liefert. Da es zu allen Beiträgen kurze Bildeindrücke zu den Proben gibt, füge ich diese an die Texte an und ziehe im Anschluss daran noch ein kleines Fazit. Wie es aussieht, sind alle Delegationen mit Ausnahme der australischen physisch in Rotterdam anwesend, allerdings können noch immer unvorhergesehene Zwischenfälle, z.B. positive Corona-Tests, dazwischenkommen. So, genug Vorgeplänkel, jetzt geht es los mit dem ersten Semifinale.

1. Litauen: The Roop "Discoteque"

Der ESC 2021 beginnt mit einer Art Paukenschlag, denn der litauische Beitrag wird in Umfragen und Wettquoten hoch gehandelt, und auch ich zähle ihn zu den Favoriten für den Gesamtsieg. Hier stimmt alles: Der Rhythmus sorgt für Aufmerksamkeit, der Refrain bleibt im Ohr und insbesondere der charismatische Sänger Vaidotas sorgt für lang anhaltende Erinnerung. Ich bin mir 100% sicher, dass sich dieser Beitrag für das Finale qualifizieren wird.



Probenfazit: Solide und professionell dargeboten - Litauen empfiehlt sich immer mehr als Mitfavorit.

2. Slowenien: Ana Soklič "Amen"

Amen. Hallelujah. Es ist nicht das einzige Lied dieses Namens in diesem Jahr, und auf mich wirkt es gewollt pathetisch - ich nehme Ana keine tiefen religiösen Gefühle ab. So sagt die Sängerin selbst, der Text lasse eigene Meinungen zu - das ist eine nette Umschreibung für 'inhaltsleer'. Zudem wirkt der Beitrag nach dem schwungvollen Lied aus Litauen eher blass, ich denke, er wird nicht genügend Stimmen für das Finale bekommen.



Probenfazit: Ana ist eine sehr gute Sängerin, aber das Lied strahlt so viel Pathos aus, dass ich ihr das nicht abnehme. Zudem wirkt sie bei einem hör-, aber nicht sichtbaren Gospelchor verloren. Ich bleibe dabei, dass wir Slowenien im Finale nicht wiedersehen.

3. Russland: Manizha "Russian Woman"

Trotz des englischen Titels wird dieses Lied überwiegend auf Russisch gesungen - oder soll ich sagen geschrieen? Mich persönlich erreicht die Darbietung überhaupt nicht, ich verstehe, dass die Interpretin wütend ist, weiß aber nicht, warum, offenbar geht es wieder einmal um die Emanzipation der Frau - ich dachte, dazu sei mittlerweile genug gesagt und gesungen, aber was weiß ich als Mann schon. Die Refrains sind an russische Volksweisen angelehnt und kontrastieren daher mit den Strophen. Russland hat viele Freunde, daher denke ich, dass wir dieses Lied im Finale noch einmal hören.



Probenfazit: Das Lied erreicht mich noch immer nicht, die optische Umsetzung aber umso mehr. Manizha und ihre Leute haben Spaß, und den übertragen sie auch aufs Publikum. Ein sicherer Qualifikant.

4. Schweden: Tusse "Voices"

Schweden liefert genau das ab, was man in jedem Jahr aus dem Land erwartet: Ein eingängiges gut produziertes und perfekt inszeniertes Lied ohne Experimente. Ich würde mir gerade beim ESC Beiträge wünschen, die irgendwie aus der Reihe fallen und neue Klänge präsentieren, aber das ist, wie wir seit Jahrzehnten wissen, von Schweden nicht zu erwarten. Ich denke, dass sich das Lied für das Finale qualifizieren wird, es ist eingängig, aber eben auch beliebig. Und 'a million voices' hatten wir 2015 schon einmal, seinerzeit war es der russische Beitrag, und offen gestanden, gefiel er mir besser.



Probenfazit: Tusse leidet nach einer Operation unter stimmlichen Problemen, die er hoffentlich bis zum großen Auftritt in den Griff bekommt. Mich befremdet das abgeschnittene Jackett, bei der nationalen Vorentscheidung war es noch komplett. So sieht es aus, als habe es jemand aus dem Altkleidercontainer beim Stadttheater organisiert. - Unter den gegebenen Umständen sehe ich die Finalqualifikation nicht mehr als sicher, wünsche dem schwedischen Team aber ein 'lycka till', auf dass sie die Probleme noch lösen können.

5. Australien: Montaigne "Technicolour"

Montaigne wird nicht persönlich in Rotterdam auftreten, die Corona-Regeln lassen es nicht zu, stattdessen wird ein im März unter Bühnenbedingungen aufgezeichnetes (und von der EBU begutachtetes) Video gezeigt. Ich sehe und höre ein handwerklich gut gemachtes Lied, allerdings fehlt mir der besondere Wiedererkennungswert, sodass ich dazu tendiere, dass sich das Lied nicht qualifizieren wird.



Probenfazit: Die australische Delegation ist, wie bereits erwähnt, nicht in Rotterdam anwesend und kann folgerichtig dort auch nicht proben. Für die Halbfinalshow wird ein vorproduziertes Video verwendet, aus dem ein kleiner Vorschau-Ausschnitt gezeigt wird. Offenbar arbeitet man mit einigen optischen Effekten, die Farbe aus dem Liedertitel ist hauptsächlich in Montaignes Frisur zu finden. Schade, zwischen den anderen Liedern wirkt dieses wie ein Fremdkörper. Ich denke immer mehr, dass es Australien sehr schwer haben wird, sich zu qualifizieren.

6. Nordmazedonien: Vasil "Here I stand"

Nordmazedonien präsentiert ein pompöses Lied, das gut in ein Musical oder auch in einen Disney-Film passen würde und das nach einer großen, ausdrucksvollen Stimme verlangt. Leider verfügt Vasil darüber nicht, und so bleibt ein blasser Auftritt, der sehr schnell wieder in Vergessenheit gerät. Ich denke, eine Qualifikation ist ausgeschlossen.



Probenfazit: Einfach zu langweilig und zu gewollt. Das wird nichts, lieber Vasil.

7. Irland: Lesley Roy "Maps"

Kein Land hat den ESC so oft gewonnen wie Irland, aber der letzte Sieg ist schon 25 Jahre her. Seitdem dümpelt das Land im mittleren bis unteren Feld herum und erreicht relativ oft das Finale nicht. In diesem Jahr versucht es das Land mit Radio-Pop der schnelleren Sorte, und durch das Tempo bleibt (zumindest bei mir) etwas hängen. Zudem wirkt die Sängerin wie ein Mädchen von nebenan und hinterlässt dadurch einen sympathischen Eindruck. Ich könnte mir vorstellen, dass das Lied das Finale erreicht, sicher bin ich mir aber nicht.



Probenfazit: Bei aller Sympathie für Lesley wirkt dieser Auftritt zu hektisch auf mich, und höre ich da Atemprobleme? Ich tendiere inzwischen dazu, dass wir das Lied nicht im Finale wiedersehen.

8. Zypern: Elena Tsagrinou "El diablo"

2018 war Zypern sehr erfolgreich und erreichte mit Platz 2 das bisher beste Ergebnis in seiner ESC-Geschichte. 2019 versuchte man es mit einem 'Replay' (das Lied hieß auch genau so) und war deutlich weniger erfolgreich - offenbar haben die Verantwortlichen gesucht, was gefehlt hat und deshalb wahllos ein paar spanische Vokabeln eingearbeitet; da dem gesamten Text jeglicher Tiefgang fehlt, war die Bedeutung völlig unerheblich. In den kurzen Passagen, in denen Elena quasi a cappella singt, offenbart sie zudem eine völlige Abstinenz von Stimme und Talent. Ich hoffe inständig, dass dieses Lied im Halbfinale hängen bleibt, ganz ausschließen kann ich eine Qualifikation aber nicht.



Probenfazit: Ich bleibe dabei, das ist billiger Mist. Da es aber genügend Menschen gibt, die billigen Mist mögen, glaube ich inzwischen an eine Qualifikation.

9. Norwegen: TIX "Fallen Angel"

Manchmal frage ich mich, ob es einen Fundus für die Requisiten gibt, die bei ESC-Liedern zum Einsatz kommen. Falls ja, ist TIX hier fündig geworden, denn die Engelsflügel waren schon mehrmals auf der Bühne, zuletzt beim kroatischen Beitrag 2019. Interessanter werden sie dadurch nicht, insbesondere dann, wenn sie mit einem komplett durchschnittlichen Lied kombiniert werden. Stört nicht beim Bügeln, bleibt aber auch nicht in Erinnerung - ich glaube nicht an einen Finaleinzug.



Probenfazit: Wieder so ein Lied, dessen rührende Hintergrundgeschichte die Zuschauer zum Anruf animieren soll (hier geht es wohl um die Krankheitsgeschichte des Sängers). Diese ist aber vielen Menschen nicht bekannt und anderen egal. Wenn ein Lied nicht aus sich heraus wirkt, ist es beim ESC fehl am Platz. Ich bleibe beim "Nein".

10. Kroatien: Albina "Tick-Tock"

Tick-Tock. Bim-Bam. Ding-Dong. Schni-Schna-Schnappi. Immerhin weckt das kroatische Lied nach dem langweiligen norwegischen Beitrag wieder auf, es regt zum Mitschnippen und -wippen an, und die landessprachlichen Textteile wirken sehr positiv. Ich denke, dass wir Kroatien im Finale sehen.



Probenfazit: Dieser Beitrag gefällt mir immer besser. Kroatien bleibt beim bewährten Schema, gut so, das Lied und der Auftritt wirken sehr stimmig.

11. Belgien: Hooverphonic "The wrong place"

Wenn ich dieses Lied in eine Schublade stecken müsste, würde ich 'Adult Contemporary' wählen - das ist definitiv Musik, die eher ein älteres Publikum anspricht, und dazu zähle ich mich - mir gefällt es gut. Zudem sehe ich, wie schon beim irischen Beitrag, eine Sängerin, die auch meine Nachbarin sein könnte; ein eingängiges, aber anspruchsvolles Lied, in der Frühzeit des ESC war das das Ideal. Mich erreicht das Lied, ich denke, das Finale ist machbar.



Probenfazit: Hooverphonic haben beschlossen, ein düsteres Lied düster zu inszenieren. Mich erreicht dieser Auftritt, ich fürchte aber, er ist vielen Zuhörern zu düster. Mittlerweile zweifle ich an der Qualifikation. Allerdings: Man erkennt, dass Hooverphonic eine eingespielte und professionelle Gruppe sind - und, wie gesagt, stimmig ist die Darbietung.

12. Israel: Eden Alene "Set me free"

Hier bin ich wieder ein wenig hin- und hergerissen. Mir gefallen der Rhythmus, der eingängige Refrain und die positive Ausstrahlung der Sängerin - allerdings wirkt das Lied wieder einmal wie Radiopop von der Stange, ich weiß nicht, ob es lange in Erinnerung bleibt. Hier könnte die relativ späte Startnummer hilfreich sein.



Probenfazit: Eden muss sich gegen einige Konkurrenzbeiträge behaupten, bei denen ebenfalls tanzbare Lieder von weiblichen Stimmen und diversen Tänzer/-innen präsentiert werden. Ich hoffe, Eden hat durch ihre sympathische Ausstrahlung einen Bonus, und sie erreicht das Finale. Das Lied allein gibt es nicht her.

13. Rumänien: Roxen "Amnesia"

Warum beschäftigen sich junge Sänger/-innen mit so düsteren Themen, als ob morgen die Welt unterginge? Wahrscheinlich wirkt das Lied auf einige (viele?) Zuhörer anspruchsvoll und getragen, auf mich allerdings eher düster und bedeutungsschwanger-depressiv. Auf mich hinterlässt der Beitrag keinen (positiven) Eindruck, ich bin gespannt, wie das die Zuschauer und die Juroren sehen.



Probenfazit: Ich klinke mich aus, ich gehöre definitiv nicht zur Zielgruppe dieses Liedes. Diese besteht vermutlich aus Leuten, die auch Billie Eilish mögen (was bei mir ebenfalls nicht der Fall ist). Die Frage ist allerdings, ob diese den ESC ansehen. Ich bezweifle die Qualifikation nach wie vor.

14. Aserbaidschan: Efendi "Mata Hari"

Auch hier schlägt meine ältere Generation wieder zu, wenn ich die Textstelle 'Ma-Ma-Ma-Ma' höre, vervollständige ich automatisch mit 'Ma Baker, she taught her four sons', und gerade, als dieses Lied aktuell war, gab es schon einen ESC-Beitrag namens 'Mata Hari'. Norwegen belegte damals, 1976 war das, den letzten Platz, das wird Efendi wohl nicht passieren. Dem Vortrag kommt sicher zugute, dass in diesem Jahr (ausnahmsweise, wie es heißt) auch Background-Stimmen vom Band eingespielt werden dürfen, was bei den offenbar elektronisch verfremdeten Passagen hilfreich sein dürfte. Insgesamt ein runder Beitrag, ich denke, die Qualifikation dürfte sicher sein.



Probenfazit: Noch einmal zeigt sich mein biblisches Alter, denn als ich die Bühnenkleidung sah, musste ich sofort an Chers legendären Wetten-dass-Auftritt 1987 denken, aber das nur nebenbei. Das Team hat während der Proben offenbar ein wenig herumexperimentiert, ich hoffe, alle Beteiligten sind mit dem Ergebnis zufrieden - ich bin es.

15. Ukraine: Go_A "Shum"

Hier musste ich eine Art inneren Radierer benutzen. Die Ukraine war in diesem Jahr eines der ersten Länder, die ihren Beitrag vorstellten, und er gefiel mir ausgesprochen gut. Allerdings entsprach er nicht den EBU-Richtlinien, insbesondere war er zu lang, und die überarbeitete und regelkonforme Version war stark verändert. Als ich mich aber geistig vom ursprünglichen Lied getrennt hatte, entdeckte ich auch hier entsprechende Qualitäten. Der vor allem in Osteuropa populäre 'weiße Gesang' ist sicher nicht jedermanns Geschmack, aber wie ich schon mehrmals erwähnte, haben polarisierende Lieder eine bessere Chance als solche, die niemandem wehtun, aber auch langweilig wirken. Ich sehe den Beitrag als interessanten Farbtupfer und möchte ihn gern im Finale wiedersehen.



Probenfazit: Da hat uns das Corona-Virus wieder eingeholt: Kateryna, die Sängerin der Gruppe, fühlte sich unwohl und durfte daher den Bühnenraum nicht betreten, zunächst rein prophylaktisch. Sie wurde durch ein Double ersetzt. Die Probe ist daher nur bedingt aussagefähig; wenn alles gutgeht, dürfte der Qualifikation aber nichts im Wege stehen, auf den dürftigen Bildern, die ich bisher gesehen habe, gefällt mir gerade Katryna als ruhender Pol bei diesem treibenden (und immer schneller werdenden) Rhythmus sehr gut. Grundsätzlich gilt, dass im Fall von krankheitsbedingten Ausfällen im Halbfinale oder Finale die voraufgezeichneten Videos gezeigt werden.

16. Malta: Destiny "Je me casse"

Alles richtig gemacht, liebe Malteser! Eine talentierte junge Sängerin mit einer großartigen Stimme präsentiert ein eingängiges und mitreißendes Lied, das als Sahnetupfer beim ansonsten englischen Text einen französischen Titel hat, der im günstigsten Fall sogar zum Überlegen anregt 'Ich zerbreche'? 'Ich gehe kaputt'? Service: Es heißt 'Ich breche auf' vulgo 'Ich haue ab'. Mir gefällt die rhythmische Anleihe an Ragtime und Charleston sehr gut, denn genau das ist 20er-Jahre-Musik, allerdings aus dem 20. Jahrhundert. Ein Favorit der Buchmacher, und ein sicherer Finalist.



Probenfazit: Ich bin erleichtert - auf den Bildern der ersten Probe sahen Destiny und ihre Gruppe nicht professionell, sondern wie Professionelle aus. Offenbar ist die Kritik, die von vielen Seiten geäußert wurde, bei den Verantwortlichen angekommen, mittlerweile sieht der Auftritt rund aus, und Destinys Talente kommen voll zur Geltung, es gibt keine äußeren Störfaktoren mehr. Das erste Halbfinale endet so, wie es angefangen hat, Favoriten bestätigen ihre Position.

Puh, schwer. Ich sehe folgende 10 Beiträge im Finale (in Startreihenfolge):

Litauen
Russland
Schweden
Zypern
Kroatien
Belgien
Israel
Aserbaidschan
Ukraine
Malta

Das Halbfinale wird am Dienstag, 18.5.21, um 21 Uhr auf ONE übertragen, man kann es z.B. auch über Youtube (https://www.youtube.com/c/EurovisionSongContest) oder über eurovision.tv im Internet verfolgen. Am Tag danach werde ich dann kommentieren, wie richtig ich lag und was mir besonders aufgefallen ist.

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