Freitag, 14. Mai 2021
Zweites Halbfinale 2021
1. San Marino: Senhit feat. Flo Rida "Adrenalina"

Vor 10 Jahren vertrat Senit San Marino schon einmal, sie verbreitete gepflegte Langeweile, ihr Lied wurde zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen, regte aber nicht zur Punktvergabe an und schied folgerichtig im Halbfinale aus. Inzwischen hat sie nicht nur ein 'h' dazubekommen, sondern ist offenbar auch musikalisch gereift. Beeindruckende zehn Namen, darunter auch den der Sängerin selbst, sehe ich bei den Autoren, und als Gaststar konnte sie den US-amerikanischen Rapper Flo Rida gewinnen, der vor ein paar Jahren auch in Deutschland recht erfolgreich war (ältere Leser werden sich vielleicht erinnern). Hier zeigt sich der Vorteil der Ausnahmeregel, nach der in diesem Jahr Stimmen auch per Halbplayback zugeschaltet werden können; Senhit bestätigte, dass Flo Rida in jedem Fall zu hören sein wird, auch wenn er u.U. aufgrund der Corona-Beschränkungen nicht persönlich vor Ort sein kann. Das Ergebnis ist ein durch und durch professionell produziertes tanzflächentaugliches Lied, und meine zwei Prognosen sind nicht allzu gewagt: San Marino wird sich für das Finale qualifizieren und 2021 sein bisher bestes Ergebnis erzielen.



Probenfazit: Flo Rida ist (noch) nicht in Rotterdam anwesend, aber der ganze Auftritt ist auf ihn zugeschnitten. Offenbar vertraut man seiner Prominenz mehr als Senhits Können. Warten wir es ab - Senhit selbst wirkt auf mich etwas zu perfekt und zu künstlich und aufgesetzt.

2. Estland: Uku Suviste "The lucky one"

Ich verkneife mir die bissige Bemerkung, dass dieses Lied am besten wirkt, wenn man den Ton ausschaltet. Uku sieht zugegebenermaßen sehr gut aus und weiß das auch, seine Optik kann aber nicht über die Durchschnittlichkeit seines Liedes hinwegtäuschen. Sein Gesicht bleibt in Erinnerung, sein Beitrag leider nicht. Keine Qualifikation.



Probenfazit: An meiner Einschätzung hat sich nichts geändert.

3. Tschechien: Benny Cristo "Omaga"

Natürlich sehe ich mir die Wettquoten und Abstimmungen, vorwiegend in Fanforen, vor dem Contest an, und meist stelle ich fest, dass diese tendenziell mit meinen Einschätzungen weitgehend übereinstimmen, was auch nicht allzu verwunderlich sein dürfte. Manchmal sehe ich aber auch große Diskrepanzen, und meist kann ich sie mir nicht erklären. Der tschechische Beitrag ist so ein Fall, er findet sich in den einschlägigen Ranglisten meist sehr weit unten wieder, wohingegen mir die positive Ausstrahlung sehr zusagt. Ich denke, "Omaga" ist ein perfektes Gute-Laune-Lied, und ich lasse mich von den Statistiken nicht beirren und sehe den Titel eindeutig im Finale.



Probenfazit: Benny ist ein Sympathieträger, und die Hip-Hopper sind ein Kontrast zu den Balletttänzern der anderen Auftritte. Allerdings möchte ich das 'eindeutig' aus dem letzten Satz meines ersten Absatzes streichen, im Gegenteil, ich glaube, Tschechien wird es schwer haben.

4. Griechenland: Stefania "Last dance"

Wieder einmal schlägt meine Erinnerung zu, bei 'Last dance' muss ich unweigerlich an Donna Summer denken, aber das nur am Rande. Stefania hat quasi ein Heimspiel, sie wurde als Kind griechischer Eltern in den Niederlanden geboren und lebt auch dort. Sie hat schon jung Bühnenerfahrung sammeln können und ist als Teil einer Gruppe auch schon (für die Niederlande) beim Junior-ESC angetreten. So trifft ihr jugendliches Aussehen auf das nötige Maß an Professionalität, und das bringt auch ihr Wettbewerbsbeitrag mit. Eine gute Mischung, wie ich finde, ich sehe das Lied im Finale.



Probenfazit: Die technischen Schwierigkeiten der ersten Probe scheinen überwunden zu sein, so ergibt sich ein gelungener Auftritt mit interessanten Effekten. Gut gemacht.

5. Österreich: Vincent Bueno "Amen"

Zum zweiten Mal treffen wir in diesem Jahr (und zum dritten Mal insgesamt beim ESC) auf ein Lied namens "Amen", aber Österreich verkauft es nicht so bedeutungsschwanger wie Slowenien, sondern wählt eine kraftvolle Ballade. Mir gefällt es gut, aber ich weiß nicht, ob es eingängig genug ist, um zum Abstimmen zu bewegen. Ich fürchte, es wird sich nicht qualifizieren, auch wenn ich es Vincent wünschen würde.



Probenfazit: Österreich steigt in meiner Einschätzung. Vincents Pathos wirkt glaubwürdiger als das seiner slowenischen Kollegin, und durch die funkelnden Elemente seines Jacketts wird der dunkle Grundton in Bühnenbild und Kleidung gut aufgelockert; farbliche Einsprengel würden da eher störend wirken. Mittlerweile halte ich eine Qualifikation zumindest für möglicher.

6. Polen: Rafał "The ride"

Offenbar ist Rafał in Polen recht populär, warum auch immer - der Gesang gehört schon mal nicht zu seinen Kernkompetenzen. Ich höre ein mäßig originelles und ebenso mäßig produziertes 80er-Jahre-Gedächtnis-Lied und sehe einen Sänger, der ebenfalls an diese Zeit erinnern möchte, dabei aber verkleidet aussieht (habe nur ich Assoziationen zu Max Headroom?). Bedauerlicherweise hinterlässt dieser Beitrag bei mir einen durch und durch negativen Eindruck, und ich gehe davon aus, dass ich ihn im Finale nicht noch einmal ertragen muss.



Probenfazit: Nein. Einfach nein. Ein mittelaltes unsympathisch wirkendes Moppelchen, das verzweifelt auf jugendlich macht, wirkt einfach nur lächerlich. Max Headroom im Altersheim. Weg damit.

7. Moldau: Natalia Gordienko "Sugar"

Moldau bietet ein Wiedersehen mit zwei 'alten Hasen': Natalia vertrat das Land,damals blutjung, bereits 2006, und der Komponist Filip Kirkorov schrieb schon diverse Beiträge für diverse Länder und sang einen davon sogar selbst. Das Ergebnis ist ein Dancefloor-Titel mit mitreißendem Rhythmus und einer selbstbewusst wirkenden Sängerin. Nach den beiden eher faden Liedern davor wacht das Publikum (und die Jury) wieder auf und wird sicher den einen oder anderen Punkt vergeben - ich bin mir ziemlich sicher, dass wir auch im Finale zu "Sugar" tanzen können.



Probenfazit: Mein Enthusiasmus ist ein wenig verflogen, aber dennoch glaube ich an eine Qualifikation. Mir gefällt der treibende Rhythmus, aber gerade gemessen daran finde ich die Darbietung fast ein bisschen zu bieder.

8. Island: Daði og Gagnamagnið "10 Years"

Ich habe gesagt, dass ich bei den vielen Künstlern, die bereits im Vorjahr auftreten sollten, den Vergleich zwischen den beiden Beiträgen vermeiden möchte; beim isländischen Lied gelingt es mir nicht, so sehr ich mich auch bemühe. 2020 präsentierten Daði og Gagnamagnið ein sensationelles Lied, das in mehreren Ländern, darunter Großbritannien, die Verkaufslisten erreichte und von mehreren Prominenten explizit erwähnt wurde; Island galt neben Litauen als heißer Anwärter auf den Gesamtsieg. In diesem Jahr ist der Beitrag nach einem ähnlichen Konzept geschrieben worden (völlig legitim, never change a winning team) und objektiv kein bisschen schlechter als das 'Vorbild' - und doch fehlt mir etwas. Ich hoffe, dass es die im letzten Jahr neuen und originellen Elemente sind, die auf mich jetzt quasi ausgelutscht wirken, und dass sie dem Großteil der Zuschauer und -hörer noch unbekannt sind. Ich wünsche Daði (der übrigens in Berlin lebt) und seinen Leuten von Herzen alles Gute und bin mir sicher, dass wir die Gruppe im Finale wiedersehen.



Probenfazit: Danke, Daði & Co. - der Zauber ist wieder da. Mir gefällt die scheinbar unprofessionelle Choreographie, die fast beiläufig wirkt und hinter der doch harte Arbeit steckt - und genau davon merkt man bei der gesamten Darbietung nichts. Island entwickelt sich wieder zu einem heißen Favoriten. Übrigens habe ich einen Bericht gelesen, nach dem uns am Ende des Auftritts noch eine Überraschung erwartet, aber ich möchte nichts verraten, auch, weil ich den Wahrheitsgehalt des Gerüchtes nicht kenne.

9. Serbien: Hurricane "Loco loco"

Party-Musik in Landessprache vom Balkan, gut inszeniert und produziert, ich denke, die gemeinsame Power von drei Künstlerinnen, von denen jede für sich schon reichlich Bühnenerfahrung hat, kommt gut zur Geltung. Im Gegensatz zum zyprischen Beitrag stören mich hier die spanischen Einsprengsel nicht, weil sie sich in das Gesamtwerk einfügen. Ich würde mich sehr wundern, wenn Serbien das Finale verpasst.



Probenfazit: Genau das ist der Unterschied, liebes Team aus Zypern: Auch hier haben wir einen tanzbaren Beitrag mit spanischen Wortfetzen, aber er wird nicht billig, sondern fast klassisch und elegant und zumindest sehr professionell dargebracht. Die Landessprache gibt noch einen besonderen Charme. Super, liebe Serbinnen!

10. Georgien: Tornike Kipiani "You"

Warum, lieber Tornike? Ich bin fassungslos, dass ein so talentierter Musiker ein so belangloses und langweiliges Lied vorträgt (und auch noch selbst verfasst hat). Nein, das wird nichts, und mir fällt auch wirklich nichts Positives zu diesem Beitrag ein.



Probenfazit: Mein Eindruck ist verstärkt worden, hier haben wir einen Kandidaten für den letzten Platz. Schade, ich mag Tornikes Stimme.

11. Albanien: Anxhela Peristeri "Karma"

Eigentlich erwarte ich in jedem Jahr ein Stück typische Balkan-Musik aus einem der Nachfolgerländer Jugoslawiens; in diesem Jahr hat sich Albanien um dieses kulturelle Erbe gekümmert und mit einem tanzbaren Rhythmus kombiniert. Tausend Dank an das dortige Team dafür, dass das Lied in Landessprache gelassen wurde und ein dickes Lob an Anxhela, die es gut interpretiert. Das Finale dürfte kein Problem sein.



Probenfazit: Kein Problem - das relativiere ich ein wenig. In diesem Jahr sind einfach zu viele tanzbare Lieder mit weiblichen Protagonisten am Start. Allerdings hat Albanien durch den ethnischen Einfluss ein gewisses Alleinstellungsmerkmal, und Anxhela macht ihre Sache sehr gut.

12. Portugal: Black Mamba "Love is on my side"

Portugal tritt erstmals in seiner fast 60jährigen ESC-Geschichte komplett auf Englisch an, und ich möchte eine Frage wiederholen, die ich schon beim georgischen Beitrag gestellt habe: Warum? Dieses Lied ist an Mittelmäßigkeit nicht zu überbieten, und es bietet keinerlei musikalischen Höhepunkt - wie vermeide ich das Wort Pinkelpause jetzt möglichst geschickt? Fast hätte ich das Lied als akustischen Sondermüll bezeichnet, so sage ich nur: Kein Finale.



Probenfazit: Dieser Beitrag hat erstaunlich viele Freunde, und ich versuche, ihm etwas Positives abzugewinnen, indem ich ihn mir als Hintergrundmusik in einer Bar vorstelle. Da stört er nicht, bleibt aber auch nicht in Erinnerung. Auch hier gilt, dass eine rührende Geschichte zum Inhalt nicht viel hilft, da diese den Zuschauern nicht unbedingt bekannt ist oder einfach nicht interessiert. Ich bleibe skeptisch, zumal ich die Stimme als unangenehm empfinde und die Titelzeile etwas zu oft höre.

13. Bulgarien: Victoria "Growing up is getting old"

Muss ich mir von einem altklugen Gör wirklich Plattitüden wie 'Aufwachsen ist alt werden' sagen bzw. vorsingen lassen? Was kommt danach - 'Wasser ist nass'? Soll dieser Allgemeinplatz von dem erschreckend dünnen Stimmchen ablenken? Ich weiß, dass dieses Lied in einigen Umfragen erstaunlich hoch platziert ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Finale landet.



Probenfazit: Ein Blick auf die Wettquoten überrascht mich sehr, Bulgarien gehört zum erweiterten Favoritenkreis. Ich bleibe dabei, dass das Publikum in diesem Jahr kein depressives Gewimmer hören will und nicht dafür anruft. Vielleicht sehen es die Jurys anders, allerdings dürften hier die mangelnden stimmlichen Qualitäten zu Buche schlagen. Vielleicht belehrt mich das Ergebnis eines Besseren, aber ich halte eine Qualifikation immer noch für unwahrscheinlich.

14. Finnland: Blind Channel "Dark side"

Exakt so stelle ich mir finnische Rockmusik vor - ich denke, 'solide' ist das passende Wort. Meinen persönlichen Geschmack treffen Blind Channel nicht, aber das ist ja auch nicht wichtig, ich erkenne die runde Produktion an und weiß, dass dieser Musikstil nicht wenige Freunde hat - genug, um das Finale zu erreichen.



Probenfazit: Ja, das Finale sollte machbar sein, dort wird es aber eng, weil Finnland da auf Italien trifft, beide Lieder haben m.E. eine ähnliche Zielgruppe.

15. Lettland: Samanta Tina "The moon is rising"

Auch hier muss ich meinen eigenen Geschmack zurückstellen, aber in die andere Richtung. Ich schätze die Lieder, die von Aminata (die 2015 auch als Interpretin dabei war) geschrieben wurden, sehr, und halte den lettischen Beitrag in diesem Jahr für einen der anspruchsvollsten und innovativsten; leider geht das aber stark zu Lasten der Eingängigkeit, sodass ich fürchte, dass sich nicht viele Zuschauer für das Lied erwärmen können (zumal die meisten es zum ersten Mal hören), und dass es das Finale nicht erreicht. Schade.



Probenfazit: Samanta Tina zeigt eine gute Leistung, und Aminata hat wie immer ganze Arbeit geleistet, aber der Beitrag ist einfach zu sperrig und bleibt nicht im Ohr.

16. Schweiz: Gjon's Tears "Tout l'univers"

Die Schweiz ist aus ihrem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf erwacht und bringt zwei Jahre nach Luca Hänni und seinem Partykracher eine so wunderschöne Ballade, dass sie niemanden kalt lassen dürfte, präsentiert von einem Ausnahmesänger, der auch die Falsettpassagen traumhaft sicher beherrscht. Für kontinentale Gänsehaut ist gesorgt, und das Lied steht in vielen Umfragen ganz oben - völlig zurecht, wie ich finde. Natürlich hören wir Gjon im Finale.



Probenfazit: Gjons Auftritt überrascht mich, ich hätte nicht gedacht, dass er sich so viel bewegt. Insgesamt sehr stimmig, Gjon überzeugt mit seiner Stimme, ein sicherer Kandidat für den Gesamtsieg.

17. Dänemark: Fyr og Flamme "Øve os på hinanden"

Das ist mein 'guilty pleasure' in diesem Jahr, ich kann es stundenlang in Dauerschleife hören und fühle mich 35 Jahre jünger, aber zunächst einmal tausend Dank an die Verantwortlichen, die die Startreihenfolge festgelegt haben und dafür sorgen, dass die Zuschauer und die Juroren nach der berechtigten Ergriffenheit wieder die nötige Portion Gute-Laune-Musik bekommen. Und: Tak en million, kære naboer, vielen Dank, liebe Nachbarn, für den ersten dänischsprachigen Beitrag seit 1997 und dafür, dass ihr das 80er-Jahre-Lebensgefühl so perfekt auf die Bühne bringt - und das von zwei Männern, die noch nicht einmal geboren waren, als diese Musik (und diese Kleidung) hochaktuell waren. À propos zwei Männer - warum sehe ich vor meinem geistigen Auge immer ein 'NORA'-Kettchen?



Probenfazit: Auch wenn die Wettquoten es nicht unbedingt hergeben, verlasse ich mich wie vor zwei Jahren bei meinem 'guilty pleasure' auf mein Bauchgefühl - damals hat es auch funktioniert, und ich denke, ein so einprägsames Gute-Laune-Lied ist genau das, was die Zuschauer jetzt wollen.

Ich fand es im zweiten Halbfinale noch schwieriger als im ersten, ein Ergebnis vorherzusagen. Insgesamt tendiere ich in diesem Jahr eher zu optimistischen als zu melancholischen Liedern; das ist auch der Grund, warum ich Tschechien gegenüber Österreich bevorzuge. Meine Prognose für die Finalqualifikation, wieder in Startreihenfolge:

San Marino
Tschechien
Griechenland
Moldau
Island
Serbien
Albanien
Finnland
Schweiz
Dänemark

Die Show wird am Donnerstag, 20.5.21, um 21.00 Uhr wieder u.a. bei ONE und auf den einschlägigen Internetkanälen übertragen.

... comment