Sonntag, 2. August 2020
Vorentscheidungen - Teil 3
Meinen dritten (und vermutlich letzten) Teil der Rückblicke auf die Vorentscheidungen möchte ich mit drei Liedern beginnen, die bereits vorher aus teils kuriosen Gründen disqualifiziert wurden.

Monica Morell sollte 1973 an der Schweizer Vorentscheidung mit „Bitte glaub es nicht“ teilnehmen. Bei der Auswahl des Liedes lehnte sie u.a. einen von ihrer Managerin Erna Brünell geschriebenen Titel ab. Vermutlich aus Eifersucht teilte diese daraufhin dem Schweizer Fernsehen mit, dass das Lied nicht von einem Schweizer, sondern von dem Deutschen Pepe Ederer geschrieben wurde, was den damaligen Spielregeln widersprach, das Lied wurde tatsächlich disqualifizert. Pikant: Auch Erna Brünell war Deutsche. „Bitte glaub es nicht“ wurde trotzdem ein Erfolg, Monica Morell trat damit u.a. in der ZDF-Hitparade auf.



1962 war Gitte Hænning mit „Jeg snakker med mig selv“ als Teilnehmerin der dänischen Vorentscheidung gemeldet. Vielleicht aus Vorfreude summte und pfiff der Komponist das Lied kurz zuvor in der Kantine des dänischen Rundfunks; das wurde aber als unerlaubte Vorveröffentlichung gewertet, die Folge war eine Disqualifikation.



2003 sollte Joachim Deutschland mit „Marie“ an der deutschen Vorentscheidung teilnehmen, auch dieses Lied wurde disqualifiziert. Grund dafür war weder der obszöne Text (Schlampe, Drecksau…), noch der Umstand, dass Joachim bei der Pressekonferenz, bei der die Lieder vorgestellt wurden, seinen nackten Hintern präsentierte. Vielmehr fiel den Verantwortlichen ein anderes Lied auf, das er aufgenommen hatte, nämlich „Die Stoibers“. Hierin wurde die Familie des damaligen bayrischen Ministerpräsidenten beleidigt, was der NDR nicht dulden konnte oder wollte. Die Folge war nicht nur die Nichtteilnahme bei der Vorentscheidung; vielmehr gab es auf Joachims CD statt „Die Stoibers“ nur eine gleich lange Lücke, und auf Konzerten spielte er das Lied nur instrumental.



Kommen wir aber zu Liedern, die sich tatsächlich um den ESC bewarben: 1964 versuchte es Wenche Myhre in Norwegen mit „La meg være ung“. Sie belegte Platz 3.



1992 versuchte sie es dort erneut mit „Du skal få din dag i morgen“, und wieder wurde es ein dritter Platz.



Spanien war 2002 das erste Land, das eine Casting-Show zur Ermittlung des Eurovisionsbeitrags verwendete. Den dritten Platz der Operación Triunfo belegte David Bustamante mit „La magia del corazón“; er war beim ESC als Chorsänger dabei.



Sezen Aksu ist in der Türkei seit langem ein Superstar. 1984 beteiligte sie sich mit „1945“ an der nationalen Vorentscheidung, kam dort aber nicht einmal in die Finalrunde.



Zum Abschluss möchte ich ein Lied aus einer deutschen Vorentscheidung vorstellten, das leider schnell in Vergessenheit geriet. Schade, ich gestehe, dass ich „Einen Traum für diese Welt“, gesungen von Xanadu, immer noch sehr gerne höre. 1989 belegten sie Platz 2.

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Montag, 6. Juli 2020
Vorentscheidungen - Teil 2
Hier sind noch ein paar Erinnerungen an internationale Vorentscheidungen:

1999 sang Feryal Başel bei der türkischen ESC-Vorentscheidung das wunderschöne „Unuttuğumu sandığım anda“ und belegte Platz 2. Ich hatte das Glück, sie einmal persönlich kennenzulernen und konnte feststellen, dass sie nicht nur eine hervorragende Sängerin, sondern auch ein großartiger Mensch ist. Ganz nebenbei bedaure ich, dass wir nie erfahren werden, wie die nationalen Kommentatoren ihren Liedertitel ausgesprochen hätten.



Dana International gewann den ESC 1998, aber schon drei Jahre zuvor nahm sie an der israelischen Vorentscheidung teil und belegte mit „Layla tov Eropa“ Platz 2. Bin ich der Einzige, der da ein paar schiefe Töne hört?



Auch Conchita Wurst unternahm vor seinem Sieg 2014 bereits einen Anlauf bei der österreichischen Vorentscheidung; 2012 trat er mit „That‘s what I am“ an und wurde Zweiter.



Humor beim ESC – das ist immer ein riskantes Experiment, zumal man nie sicher sein kann, ob dieser auch anderswo verstanden wird. Der schwedische Sänger und Komiker Sina Samadi nennt sich auf der Bühne Sean Banan, folgerichtig nahm er mit dem Lied „Sean den förste banan“ 2012 an der nationalen Vorentscheidung teil, scheiterte aber in der Vorrunde „Andra Chansen“.




Spanien war 1993 das erste Land, in dessen Liedertext das Wort „Sex“ vorkam. Da ist es vielleicht nur folgerichtig, dass sich Las Supremas de Móstoles bei der Vorentscheidung 2005 beklagten: „Du bist süchtig nach Cybersex!“ Sie belegten mit „Eres un enfermo“ Platz 2.



2018 besang Lisandro Cuxi bei der französischen ESC-Vorentscheidung eine gewisse „Eva“ und belegte Platz 2. Für Ungeduldige: Das Lied beginnt bei 1:40 Minuten.



Ist das nicht…? Den kenne ich doch? Les McKeown war in den 1970ern als Sänger der Bay City Rollers der Schwarm einer ganzen Generation von Mädchen. 1990 versuchte er als Solist, das Vereinigte Königreich beim ESC zu vertreten, landete mit „Ball and chain“ aber nur auf Platz 4 der Vorentscheidung.



Die belgische Gruppe Two Man Sound, die, wie der Name schon vermuten lässt, aus drei Männern bestand, hatte Mitte der 1970er Jahre mit „Charlie Brown“ und „Disco Samba“ einige internationale Erfolge. 1977 beteiligte sie sich mit „Dancing Man“ an der nationalen Vorentscheidung, belegte aber nur den dritten und damit letzten Platz.



Mal sehen, vielleicht folgt bald Teil 3...

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Sonntag, 5. April 2020
Zerplatzte Träume
Erstmals in der Geschichte des Eurovision Song Contests wurde die Veranstaltung abgesagt, alle 41 designierten Teilnehmer waren bereits ermittelt, sodass für 41 Künstler der Traum zerplatzte, ihr Lied vor vielen Millionen Zuschauern darbieten zu können - viele von ihnen erreichen nie wieder ein so großes Publikum.

Den deutschen Beitrag "Violent Thing" habe ich bereits in einem früheren Beitrag wohlwollend vorgestellt, heute möchte ich das Augenmerk stellvertretend auch für alle Mitbewerber auf zwei andere Lieder richten.

Litauen nimmt seit 1994 am ESC teil, kam aber über Platz 6 bisher nicht hinaus. In diesem Jahr führt das Lied "On Fire", gesungen von der Gruppe The Roop, allerdings viele internationale Wetten und Vorab-Abstimmungen an; vielleicht hätte das Land also das beste Ergebnis seiner ESC-Geschichte erzielt.



Sogar auf prominente Unterstützung aus mehreren Ländern konnte der diesjährige isländische Beitrag bauen - unter anderem Jan Böhmermann und Russell Crowe äußerten sich sehr positiv über das Lied "Think About Things" von Daði Freyr und der Gruppe Gagnamagnið. Zweimal belegte Island bereits den zweiten Platz - vielleicht hätte es in diesem Jahr erstmals zum Sieg gereicht.



Aber auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Lieder, die bereits als Beiträge zum internationalen Wettbewerb ausgewählt worden waren, dann aber aus den verschiedensten Gründen doch nicht antreten durften.

1970 boykottierten einige nordische Länder, wie bereits in einem früheren Beitrag erwähnt, den ESC als Protest gegen das Wertungssystem. Diesem Boykott schloss sich auch Portugal an, das seinen Beitrag allerdings schon ermittelt hatte. Vorgesehen war das Lied "Onde vais rio que eu canto?", gesungen von Sérgio Borges.



Der häufigste Grund für eine Absage ist die Disqualifikation des Liedes aufgrund von Vorveröffentlichung. Die Beiträge dürfen vor einem bestimmten (und im Laufe der Jahre immer wieder angepassten) Stichtag noch nicht kommerziell veröffentlicht werden. Ein Beispiel: 1976 gewann das Lied "Der Star" die deutsche ESC-Vorentscheidung. Der Interpret, Tony Marshall, war bis zu diesem Zeitpunkt für Stimmungsschlager wie "Schöne Maid" bekannt und konnte hier eine andere Facette seines Könnens zeigen. Die Freude hielt allerdings nicht lang, wenige Tage nach der Bekanntgabe des Ergebnisses konnte eine bis dahin (und auch weiterhin) weitgehend unbekannte Sängerin nachweisen, dass sie das Lied schon vorher öffentlich gesungen hatte - der Titel durfte also nicht am ESC teilnehmen. Tony Marshall zeigte sich sehr enttäuscht, er bewarb sich nie wieder für den Wettbewerb und kehrte auch musikalisch zu seinen Stimmungsschlagern zurück.



1979 sollte Maria Rita Epik gemeinsam mit der Gruppe 21. Peron mit dem Lied "Seviyorum" die Türkei beim ESC vertreten. Der Wettbewerb fand damals in Jerusalem statt, und das war auch der Grund, warum mehrere arabische Länder intervenierten und der Türkei von einer Teilnahme abrieten, was dann auch zu einer Absage führte. 20 Jahre später wurde der Wettbewerb übrigens wieder in Jerusalem ausgetragen, diesmal gab es keine Schwierigkeiten - die Türkei konnte antreten.



1982 meldete Griechenland das Lied "Sarantapente Kopelies", gesungen von Themis Adamantidis, für den ESC an. Allerdings hatte man die Rechnung ohne die Kultusministerin Melina Mercouri (ja genau, die Schauspielerin und Sängerin) gemacht - diese befand das Lied als nicht würdig, das Land international zu vertreten und sagte die Teilnahme kurzerhand ab.



1992 gewann Geraldine Olivier mit "Soleil, Soleil" in deutscher Sprache die Schweizer ESC-Vorentscheidung. Nach Ermittlung des Ergebnisses stellte sich allerdings heraus, dass das Lied in einer französischen Version bereits eingereicht worden und abgelehnt worden war. Das Schweizer Fernsehen zog das Lied daraufhin zurück und entsandte das zweitplatzierte Lied zum Wettbewerb.

2005 war die Überraschung groß, als sich der Libanon erstmals zum ESC anmeldete. Ausgewählt wurde das Lied "Quand tout s'enfuit", gesungen von Aline Lahoud. Kurz vor dem Wettbewerb fiel allerdings auf, dass das libanesische Fernsehen auf seiner Webseite Israel als Teilnehmer nicht erwähnte; eine Nachfrage ergab, dass im Libanon auch keine Gelegenheit bestand, für den israelischen Beitrag anzurufen. Das dortige Fernsehen erklärte, dass der Libanon Israel nicht als Staat anerkennt und ihm deshalb auch keine Plattform im TV geben dürfe. Da aber alle Beiträge gleichberechtigt von allen Teilnehmerländern ausgestrahlt werden müssen und der Libanon aus rechtlichen Gründen hierfür keine Möglichkeit sah, musste die Teilnahme abgesagt werden. Die Folge waren eine Geldstrafe und eine mehrjährige Sperre; der Libanon bewarb sich bisher nicht noch einmal.




2009 fand der ESC in Moskau statt; Russland befand sich zu jener Zeit in einem Konflikt mit seinem Nachbarn Georgien. Dieser beschloss, seiner Kritik subtil Ausdruck zu verleihen, indem er seinen Beitrag "We don't wanna put in", gesungen von Stephane & 3G, nannte. Das russische Fernsehen erkannte natürlich die Anspielung auf Machthaber Putin und protestierte; die veranstaltende EBU bat das georgische Fernsehen daraufhin, den Text zu ändern oder ein anderes Lied zu wählen. Nachdem das georgische Fernsehen hierzu nicht bereit war, verzichtete man völlig auf eine Teilnahme.



Es war nicht das einzige Mal, dass Russland Streit mit seinen Nachbarn hatte. 2017 fand der ESC in Kiew statt, und Russland nominierte die Sängerin Julia Samoylova mit dem Lied "Flame is burning". Diese war allerdings schon auf der besetzten Halbinsel Krim aufgetreten, was nach ukrainischem Recht bedeutete, dass sie dort nicht einreisen durfte. Alle Vermittlungen, auch seitens der EBU, scheiterten, sodass Russland in jenem Jahr nicht am ESC teilnahm. Julia Samoylova bekam ihre Chance ein Jahr später.



Diese zweite Chance soll übrigens auch eine Reihe der Künstler bekommen, die in diesem Jahr nicht am ESC teilnehmen können. Mehr dazu schreibe ich, sobald weitere Details bekannt sind.

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Samstag, 11. Januar 2020
ABBA beim ESC
ABBA gewannen den ESC 1974, und bis heute ist ihr damaliger Siegertitel „Waterloo“ einer der erfolgreichsten in der Geschichte des Wettbewerbs. Tatsächlich war die Gruppe aber an zahlreichen Song Contests oder an den nationalen Vorentscheidungen dazu beteiligt – einzeln oder als Gruppe.

1969 gab es nicht nur beim internationalen ESC, sondern auch bei der schwedischen Vorentscheidung eine Stimmengleichheit an der Spitze. In Stockholm löste man das Problem, indem die Jury erneut abstimmte. Der hierbei unterlegene Titel heißt „Hej Clown“ und wurde von Jan Malmsjö gesungen. Autoren waren Lars Berghagen und das spätere ABBA-Mitglied Benny Andersson.



Beim selben Wettbewerb belegte Bennys zukünftige Frau und ABBA-Mitglied Anni-Frid Lyngstad mit dem Lied „Härlig är vår jord“ den vierten Platz.



1972 versuchten es Benny Andersson und Björn Ulvaeus erstmals gemeinsam als Autoren bei der schwedischen Eurovisionsvorentscheidung. Sie schrieben das Lied „Säg det med en sång“, das Lena Andersson sang. Das Ergebnis war ein dritter Platz.



1973 arbeiteten die zukünftigen ABBA-Mitglieder bereits offiziell zusammen und veröffentlichten auch gemeinsame Schallplatten; sie sahen sich trotzdem noch eher als Projekt von Einzelkünstlern, zumal beide Frauen auch als Solistinnen sehr erfolgreich waren. So traten sie bei der schwedischen Vorentscheidung mit ihrem Lied „Ring Ring“ als Björn & Benny, Agnetha & Anni-Frid an. Sie galten im Vorfeld als Favoriten, belegten aber nur Platz 3. Agnetha war zu diesem Zeitpunkt übrigens im neunten Monat schwanger.



1974 klappte es dann bekanntermaßen; die Gruppe nannte sich mittlerweile auch offiziell ABBA und belegte mit dem von Benny und Björn geschriebenen „Waterloo“ nicht nur national, sondern auch international den ersten Platz. Den damaligen Spielregeln entsprechend mussten sie das Lied bei der Vorentscheidung auf Schwedisch singen.



Auch für den ESC 1975 reichen Benny und Björn als Autoren einen Titel bei der schwedischen Vorentscheidung ein; „Bang en boomerang“ wurde von Svenne & Lotta gesungen. Diese waren Bennys Bandkollegen bei den „Hep Stars“ in den 1960ern. Eine englische von ABBA gesungene Version des Liedes erschien zeitgleich unter dem etwas abgewandelten Namen „Bang-A-Boomerang“ auf der LP „ABBA“. In einigen Ländern wurde sie auch als Single ausgekoppelt.



Den nächsten Berührungspunkt ABBAs mit dem ESC finden wir 1981. Agnetha Fältskog schrieb zusammen mit Ingela ‚Pling‘ Forsman das Lied „Men natten är vår“, das von Kicki Moberg gesungen wurde und den letzten Platz belegte.



Im selben Jahr beteiligte sich Finn Kalvik mit dem Lied „Aldri i livet“ für Norwegen am internationalen ESC. Der ABBA-Bezug zu diesem Beitrag fällt nicht sofort ins Auge: Benny Andersson war Finn Kalviks Produzent, und bei der Studioaufnahme sangen die ABBA-Frauen Agnetha und Anni-Frid die weiblichen Chorstimmen; beim Wettbewerb wurden sie allerdings durch andere Sängerinnen ersetzt. Das Ergebnis war wenig erfreulich: Norwegen belegte mit 0 Punkten den letzten Platz.



Auch beim nächsten Lied findet man die Verbindung zu ABBA erst auf den zweiten Blick: 1996 vertrat die Gruppe „One More Time“ Schweden beim ESC und belegte mit dem Titel „Den vilda“ den dritten Platz. Der Pianist der Gruppe, Peter Grönvall, ist Benny Anderssons Sohn; eine der Sängerinnen, Nanne Grönvall, ist dessen Ehefrau und somit Bennys Schwiegertochter. Beide sind auch die Autoren des Liedes.



Nanne Grönvall nahm übrigens noch mehrere Male an ESC-Vorentscheidungen in Schweden und Großbritannien teil, sie wird es auch in diesem Jahr tun, und die Gruppe Bracelet, zu der Nannes und Peters Söhne (und damit Bennys Enkel) Charlie und Felix gehören, war bei der dänischen ESC-Vorentscheidung 2016 dabei. Aber ich denke, es führt zu weit, wenn ich hier alle Lieder vorstelle, an denen ABBA irgendwie familiär beteiligt sind.

Zwei Originalmitglieder der Band, nämlich Benny und Björn, schrieben 2013 gemeinsam mit dem (leider viel zu jung verstorbenen) DJ Avicii das Lied „We Write The Story“. Dieses wurde außer Konkurrenz mit großem Chor beim ESC in Malmö uraufgeführt.



Ist die Zeit ABBAs beim ESC damit vorbei? Das kann ich natürlich nicht sagen oder gar wissen, aber ich lasse meine Gedanken schweifen… die vier Originalmitglieder haben sich kürzlich erstmals seit Jahrzehnten wiedergetroffen und sogar einige neue Lieder aufgenommen, die bisher noch nicht veröffentlicht wurden. Vielleicht erleben wir ja 2024, zum 50sten Waterloo-Jubiläum, eine Überraschung?

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Sonntag, 8. Dezember 2019
Rückblick auf das Jahrzehnt
Nicht nur das Jahr 2019, sondern auch die 2010er Jahre sind in ein paar Wochen vorüber – ich möchte gern auf das Jahrzehnt zurückblicken.

Ich stelle fest, dass der Enthusiasmus, der mich viele Jahre mit dem ESC verband, deutlich abgekühlt ist. In den 1970ern nahm ich die Wettbewerbslieder per Mikrofon und Kassettenrekorder vom Fernsehen auf, in den 1990ern veranstaltete ich ESC-Partys mit manchmal 30 Gästen und mehreren Fernsehteams, in den 2000ern besuchte ich mehrere internationale Wettbewerbe und nationale Vorentscheidungen – nichts davon ist übrig, ich höre mir nach wie vor die Beiträge vorher an und versuche, sie einzuschätzen, aber ich verfolge die Auswahlsendungen der einzelnen Länder schon lange nicht mehr, und ich sehe mir die Wettbewerbe auch nach der Ausstrahlung kein weiteres Mal mehr an, die meisten der Lieder dieses Jahrzehnts habe ich schon wieder vergessen.

Ich weiß, dass ich mit meiner Meinung ziemlich allein dastehe, aber ich wünsche mir die Spielregeln, die bis 1996 galten, zurück – Live-Orchester, Landessprache, ausschließliche Jurywertung – ich weiß, dass ich die Zeit nicht zurückdrehen kann, aber der ESC ist in meinen Augen zu beliebig geworden. In manchen Augen mag ich altmodisch oder spießig sein, aber das Kürzel ESC steht für einen Liederwettbewerb, bei dem nicht die spektakulärste Show bewertet werden soll, sondern die stimmigste Komposition. Bei den deutschen Vorentscheidungen Anfang der 1970er hieß es immer so schön, dass sich die Interpreten freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Heute übertrumpfen sich viele Länder mit spektakulärer Artistik, visuellen Effekten und ausgefeilter Choreographie. Statt auf durchdachte Lieder setzt man auf optische Skurrilitäten wie tanzende Strichmännchen oder plätzchenbackende Seniorinnen. Der Zweck hierbei ist, beim Fernsehpublikum in Erinnerung zu bleiben, damit dieses in großer Zahl anruft – den Sinn hiervon habe ich noch nie verstanden, wenn ich beispielsweise einen medizinischen Rat brauche, einen Antrag stelle oder mit dem Bus fahre, vertraue ich auf die jeweiligen Fachleute, warum soll bei der Bewertung von Musik die breite Masse abstimmen, bei der ich sicher bin, dass viele Leute nicht alle Beiträge konzentriert gehört haben oder auch nur über eine gewisse musikalische Grundkompetenz verfügen? Das Ergebnis soll offenbar kommerzieller Erfolg sein – aber abgesehen vom Siegertitel 2012, „Euphoria“ von der Schwedin Loreen, konnte keines der über 400 Wettbewerbslieder des letzten Jahrzehnts in den Verkaufslisten überzeugen.

Zurück zu den Wurzeln – das bringt mich zum ersten Lied, an das ich erinnern möchte. 2017 sang ein Portugiese ein sanftes Lied im Walzerrhythmus und in seiner Landessprache, das genauso auch schon mehrere Jahrzehnte früher am ESC hätte teilnehmen können. Seine Gestik und Mimik wirkte beseelt und verschroben, und er verzichtete auf jede Art von optischer Unterstützung. Er gewann haushoch, und für mich brachte er die Essenz des Wettbewerbs zurück, weshalb ich „Amar Pelos Dois“, gesungen von Salvador Sobral und geschrieben von seiner Schwester, zu den ewigen Sternstunden des ESC zähle.



Das gelungenste Gesamtpaket kam für mich 2015 aus Belgien. Der damals gerade 19jährige Loïc Nottet war damals nicht nur Sänger, sondern auch Autor und Choreograph des belgischen Beitrags „Rhythm Inside“, und die Textzeile „We‘re gonna rap-bap-bap tonight“ blieb im Gedächtnis. Loïc Nottet gehört zu den wenigen Künstlern, deren Karriere ich auch nach dem ESC noch verfolge, ich mag seine außergewöhnliche Stimme, und seine ausgefeilten Videos überraschen mich immer wieder. Er ist immer noch jung, ich hoffe, dass er auch außerhalb seiner Landesgrenzen seinen Weg noch machen wird.



Die speziellen, besonderen und extravaganten Lieder, von denen wir früher eine ganze Reihe hören durften, werden immer seltener. Um so mehr freue ich mich, wenn ein solcher Titel im Wettbewerb auch noch erfolgreich ist – so geschehen 2012, als Rona Nishliu Albanien mit dem Lied „Suus“ vertrat und Platz 5, das bis heute beste Ergebnis des Landes, belegte. Ihre Frisur blieb ebenso in Erinnerung wie ihre vokale Akrobatik, und wie auch beim bereits angesprochenen Portugiesen schadet es dem Lied überhaupt nicht, dass der durchschnittliche Zuschauer und -hörer kein Wort versteht, weil die gesamte Interpretation einfach stimmig ist.



Das soll meinen kleinen Rückblick auf die 2010er Jahre auch schon beenden. Abgesehen von der bereits angesprochenen visuellen Überfrachtung wünsche ich mit für die 2020er Folgendes:

1. Weniger Moderatoren – vier sind einfach zu viel, egal, wie sie geschlechtsmäßig aufgeteilt sind. Dass auch eine Person allein durch den Abend führen kann, zeigte die Schwedin Petra Mede 2013.

2. Keine internationalen Stars, die mit dem ESC nichts zu tun haben, als Pausenfüller, wie zuletzt Madonna oder Justin Timberlake. Sie lassen die Wettbewerbsteilnehmer, von denen die allermeisten den größten Auftritt ihres Lebens haben, wie Statisten aussehen.

3. Keine Reanimation von Künstlern, die den Zenit ihrer Karriere schon vor mehreren Jahrzehnten hatten (wie Bonnie Tyler oder Engelbert Humperdinck). Mit ihren Auftritten tut man wirklich niemandem einen Gefallen, sondern zerstört schlimmstenfalls Illusionen.

4. Australien sollte als einmaliger Teilnehmer beim sechzigsten ESC 2015 eine Ausnahme sein, seitdem ist es aber regelmäßig im Wettbewerb. Der ESC ist eine Veranstaltung der Europäischen Rundfunkunion EBU und deren Vollmitgliedern vorbehalten; Australien gehört nicht dazu.

In wenigen Tagen beginnt mit der albanischen Vorentscheidung die heiße Phase des ESC 2020. Ich werde sie, wie in den vergangenen Jahren, interessiert und unaufgeregt verfolgen und kurz vor den Live-Übertragungen wieder meine Einschätzung abgeben. Und ich bin mir sicher, dass ich in genau einem Jahr die meisten Beiträge des Jahres vergessen habe.

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